Donezk wartet auf Friedensbringer
24. August 2015Tagsüber herrscht in Donezk scheinbar normales Leben. Denn das Schlimmste geschieht meist nachts. Morgens erzählen sich die Menschen, wie Geschosse über ihre Häuser flogen, wo Kanonen, Haubitzen und Mörser standen. "Ich ging auf den Balkon und sah zwei Kanonen. Erst schossen sie in eine Richtung, dann in die andere", berichtet eine Frau, die im Stadtzentrum lebt. "Die 'Donezker Volksrepublik' imitiert so Beschuss von ukrainischer Seite. Nachts ist das einfach, da niemand erkennen kann, wer wohin schießt und dabei Menschen tötet", so die Frau.
Viele Einwohner der Randbezirke nahe der Front meinen hingegen, ihre Häuser würden von Geschossen der ukrainischen Regierungstruppen getroffen. Dies behaupten auch die Medien der prorussischen Separatisten im Donbass. Sie berichten von einer bevorstehenden Großoffensive der ukrainischen Armee. Es gab Gerüchte, Präsident Petro Poroschenko habe am heutigen Unabhängigkeitstag der Ukraine persönlich in Donezk siegreich einziehen wollen. "Die Menschen reden nur noch von der Offensive. Aber das ist Unsinn. Poroschenko hat ein Treffen in Berlin", betont ein Bewohner von Donezk.
Hunderttausende haben Donezk verlassen
Ruhige Nächte sind für die Menschen eine Wohltat. Nach ihnen versuchen sie, sich wieder auf ein friedliches Leben einzustellen und ihre schrecklichen Erlebnisse zu vergessen. Morgens bringen sie wieder ihre Kinder in die Schule und fahren zur Arbeit, zumindest diejenigen, die noch eine haben.
Nach inoffiziellen Angaben leben in Donezk von den einst 1,1 Millionen Einwohnern noch rund 600.000. Die Stadt wirkt oft verlassen. Menschenansammlungen sind nur dort zu beobachten, wo es etwas für wenig Geld gibt. Auch in einstigen Luxusboutiquen wird günstige Ware angeboten. "Wenn man morgens aufwacht, muss man sich schon freuen. Auch muss man froh sein, wenn man ein Gehalt oder eine Rente erhält. Und man freut sich, wenn man günstig einkaufen kann", sagt ein Rentnerehepaar. Wegen hoher Lebensmittelpreise sind die Datschen mit ihren Gemüse- und Obstgärten wieder gefragt.
Zettelwirtschaft in der Stadt
Überall in der Stadt werben für die "Donezker Volksrepublik" Plakatwände, die schon seit langem nicht mehr erneuert wurden. Donezk ist auch voller aufgeklebter Zettel, auf denen alles Mögliche angeboten wird: zum Beispiel das Bargeldabheben bei ukrainischen Banken oder der Transport dorthin.
Viele Menschen wollen zu den Passierstellen entlang der Trennlinie gebracht werden, oder nach Russland. Denn heute ist es einfacher und sicherer, von Donezk über Russland in die ukrainischen Gebiete zu fahren, die von Kiew kontrolliert werden, als direkt über die Trennlinie. "Wegen der Blockade muss man nach Auswegen suchen. Alle passen sich an und gewöhnen sich an dieses Leben", sagt ein Busfahrer.
Manche Rentner und Kriminelle profitieren
Von Russland aus treffen in der "Donezker Volksrepublik" immer wieder sogenannte humanitäre Hilfskonvois ein. "Wahrscheinlich sind da Lebensmittel und Waffen drin. Wie füllen die Separatisten sonst ständig ihre Lager auf?", sagt Alexej aus Donezk. Wegen des Krieges hat er seinen Job auf einer Großbaustelle verloren. Jetzt hält er sich mit kleinen Tätigkeiten über Wasser.
Er meint, ein Leben wie in der "Donezker Volksrepublik" könne nur Kriminellen und listigen Rentnern gefallen. "Viele von ihnen sind arm. Es ist aber auch kein Geheimnis, dass es vielen gelingt, zwei Renten zu beziehen: eine von der Ukraine und eine von der 'Donezker Volksrepublik'. Und Verbrecher fühlen sich in Grauzonen sowieso immer wohl", so Alexej. Er ist überzeugt, dass den meisten Menschen in Donezk dieses aussichtslose Leben unter Kanonenbeschuss missfällt. Doch dass sich die Lage bald ändert, glaubt er nicht.
"Ein Stellungskrieg kann ewig dauern"
"Politiker verhandeln, Geschäftsleute einigen sich, aber den Menschen brennt der Boden unter den Füßen", sagt eine Bewohnerin eines Donezker Stadtbezirks nahe der Front. Sie berichtet, sie sei dagegen gewesen, dass ihr Bruder für die "Donezker Volksrepublik" in den Krieg zieht. "Die ganze Familie hat versucht, ihn davon abzuhalten, aber vergebens. Er ist inzwischen aufgestiegen und hat einen einflussreichen Posten", sagt sie. Ihr zufolge bekommen Kommandeure viel Geld.
"Ich habe vor kurzem gehört, dass solch eine Situation wie bei uns als Stellungskrieg bezeichnet wird. Und er kann ewig dauern. Dann werden wir eben so weiterleben. Die einen wollen uns befreien, die anderen, die hier sind, wollen uns schützen. Und die Mütter leiden", sagt die Frau traurig.