Doug Saunders: "Ankunftsstädte sind unsere Zukunft"
8. Mai 2016Etwas streng wirkt der 49-Jährige. Und ernst. Als hätte er einen Stock verschluckt, hält er den Körper steif, taxiert sein Gegenüber mit verbindlichem Blick und berufsmäßiger Skepsis. Erst im Gespräch taut Doug Saunders dann so richtig auf. Und als es dann um sein großes Thema geht, die "Ankunftsstädte" der Migranten, kommt er in Fahrt. Da lächelt er sogar.
Doug Saunders, Jahrgang 1967, stammt aus Toronto und arbeitet heute als Europa-Korrespondent der kanadischen Tageszeitung "The Globe and Mail". Für seine Reportagen und Kolumnen wurde er fünf Mal mit dem National Newspaper Award ausgezeichnet, dem kanadischen Pendant zum US-amerikanischen Pulitzer-Preis. Sein erstes Buch "Arrival City" wurde für renommierte Sachbuchpreise nominiert und gewann den kanadischen Donner Prize.
Recherche in Slums, Favelas und Berlin-Kreuzberg
Für sein Buch "Arrival City", das 2011 erschien, hat der kanadisch-britische Journalist die Randgebiete von 30 Mega-Städten rund um den Globus besucht. Er recherchierte in indischen Slums ebenso wie in brasilianischen Favelas, in Hüttensiedlungen am Rande afrikanischer Großstädte ebenso wie in türkischen Gecekondular, was auf Deutsch soviel heißt wie "über Nacht hingestellt". Stationen seiner dreijährigen Reportagereise waren auch das Londoner East End, die Banlieues von Paris und Berlin-Kreuzberg. Saunders sprach mit Menschen und beobachtete ihr Leben. Er verknüpfte seine Eindrücke mit wissenschaftlichen Analysen. Er erhob - eher ungewohnt für Reportagen - politische Forderungen. Und schließlich formulierte Saunders seine wegweisende These: "Migration in die Städte ist kein schreckliches Zivilisationsübel, sondern ein Fortschritt."
Fünf Jahre ist das her. Seither gilt "Arrival City" als Meilenstein unter den Sachbüchern und Doug Saunders als Experte in Sachen Migration. "Eines haben alle diese Viertel gemeinsam", stellt Saunders fest. "Es sind Orte der Ankunft." Ein Drittel der Weltbevölkerung zieht über Provinzen, Länder und Kontinente hinweg vom Land in die Städte. Inzwischen leben mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Ob Migration funktioniere oder nicht, habe wenig mit kulturellen Klüften oder religiösen Gegensätzen zu tun, sagt Saunders. Die Ziele der Neuankömmlinge seien immer die gleichen - egal, aus welchem Land sie stammten oder in welche Stadt sie gingen."Doch ob sie Arbeit finden, soziale Netzwerke aufbauen, ihren Kindern Schulbildung und eine Zukunft ermöglichen können, hängt stark davon ab, ob die Stadt auf sie vorbereitet ist."
Saunders' Begriff von der "Ankunftsstadt" hat Furore gemacht. Lange sah das Denken von Regierungen, Stadtplanern und Architekten gänzlich anders aus. Vor allem in Entwicklungsländern wurde versucht, die Abwanderung vom Land in die Stadt zu stoppen - vergeblich! "Menschen lassen sich schlecht aufhalten", weiß Saunders, "sie ziehen dahin, wo das Wohnen billig ist." In den Ankunftsstädten träfen sie auf Gleichgesinnte und bildeten Netzwerke. Vor allem aber: "Zuwanderer arbeiten, eröffnen Läden oder betreiben Werkstätten. Das alles ohne große Bürokratie."
Saunders: "Ankunftsstädte sind die erste Stufe zum sozialen Aufstieg"
Ankunftsstädte bilden so die Brücke zwischen Herkunftsort und neuem Stadtzentrum. Netzwerke ersetzen die verlorene Sicherheit der Großfamilie. Nachzügler finden Anschlussmöglichkeiten. "Für viele Bewohner", analysiert der Journalist, " sind die Ankunftsstädte ein Sprungbrett, die erste Stufe zum sozialen Aufstieg." In den Slums vieler Länder floriere eine gigantische Schattenwirtschaft aus informellen Arbeitsverhältnissen und selbstständigen Randexistenzen, bevor sie zum Kern der gewerblichen Wirtschaft aufsteigen. Sie machen, so rechnet Saunders vor, die Hälfte aller Arbeitsplätze in Lateinamerika aus, zwei Drittel aller Jobs in Indien und 90 Prozent in den ärmsten Ländern Afrikas.
In "Arrival City" verweist Saunders nicht nur auf die wirtschaftliche Dynamik von Ankunftsstädten. Nicht weniger bedeutsam sei die politische: In den Randgebieten, Außensiedlungen oder Banlieues hätten in der Vergangenheit bedeutende Entwicklungen begonnen: die Französische Revolution, der Sturz des letzten Schahs, der Aufstieg von Recep Tayyip Erdogans Partei, der Erfolg eines Hugo Chavez. "Diese Orte", prognostiziert Saunders, "werden über unseren Wohlstand entscheiden, vor allem in Europa."
Einwanderer sollten schnell Teil der Gesellschaft werden
Saunders' Thesen über Migration zielten zwar auf Wirtschaftsmigranten. Doch auch über Flüchtlinge, die aus Krisenregionen einwandern, hat der Journalist inzwischen nachgedacht. Ihr Anteil an den Zuwanderern nach Deutschland beträgt seinen Angaben zufolge fünf Prozent. "Der Großteil dieser Menschen will baldmöglichst in die Heimat zurück", glaubt Saunders, "aber ein Teil wird bleiben." Diese als Einwanderer zu betrachten, hält Saunders für wichtig. "Erlaubt ihnen schnell zu arbeiten", fordert er, "bringt sie in gewachsenen Vierteln unter statt in ausgedienten Kasernen. Baut ihren Kindern Schulen. Empfangt sie in euren Städten." So kämen die Menschen an. "Als Bürger bringen sie ihr Geld zu Banken, investieren in Eigentum, gründen Firmen und zahlen Steuern. Ihre Kinder besuchen Universitäten und werden Teil der Gesellschaft."
Von den Thesen des kanadisch-britischen Journalisten haben sich auch die Kuratoren des Deutschen Pavillons auf der Architektur-Biennale in Venedig inspirieren lassen. Unter dem Motto "Making Heimat" untersucht das Team um Generalkommissar Peter Cachola Schmal, wie Städtebauer und Architekten die Integration von Einwanderern unterstützen können. "Da gibt es viel zu tun", lächelt Saunders, "und viele Fehler zu vermeiden."