Draghis letzte Kugel
22. Januar 2015Nun ist die Katze also aus dem Sack: Die Europäische Zentralbank öffnet ihre Geldschleusen noch weiter, als die Experten dachten. Sie will ab sofort bis zum September 2016 Monat für Monat Staats- und Unternehmensanleihen in Höhe von 60 Milliarden Euro kaufen, also rund eineinhalb Jahre lang Geld in den Markt pumpen, das sich auf bis zu 1,2 Billionen Euro addiert - Experten hatten mit 500 Milliarden bis allenfalls einer Billion gerechnet.
Damit verschießt EZB-Präsident Mario Draghi seine letzte Patrone - und das auch noch voreilig und ohne Not. Er ahmt damit das Experiment der US-amerikanischen Notenbank Fed nach, die nach der Finanzkrise nicht nur die Leitzinsen gesenkt hatte, sondern Monat für Monat Anleihen in Milliardenhöhe gekauft hat. Scheinbar mit Erfolg, denn die amerikanische Wirtschaft hat sich erholt, im letzten Quartal wurde dort ein Wachstum von fünf Prozent registriert.
Draghis Kalkül ist klar: Er will mit der Geldschwemme die Banken ermuntern, wieder mehr Kredite an die Wirtschaft auszureichen, damit diese investiert und Arbeitsplätze schafft. Er will zudem das Gespenst der Deflation vertreiben, eine vermeintlich verhängnisvolle Spirale von sinkenden Preisen und Löhnen und steigenden Pleiten und Arbeitslosenzahlen. Schon jetzt, warnt er, seien die Inflationserwartungen auf einem historisch niedrigen Niveau.
Schach als Vorbild
Ein kluger Schachspieler baut in seinem Spiel Drohkulissen auf, ohne sie sofort zu verwirklichen. Draghi hat diese Strategie lange befolgt, als er ankündigte, die EZB werde alles tun, was nötig sei, um den Euro zu retten. Diese Drohung hat die Märkte beruhigt, ohne dass er sie bislang wahr machen musste. Warum also ausgerechnet jetzt? Staatsanleihekäufe sollte eine Zentralbank nur in absoluten Notlagen in Auge fassen – doch eine Notlage ist nicht erkennbar.
Im Gegenteil: Trotz erheblicher Risiken befindet sich die Wirtschaft im Euroraum, wenn auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, auf dem Weg der Besserung. Mittelfristig verbessern sich die Perspektiven sogar, wenn man bedenkt, dass der gesunkene Ölpreis wie eine belebende Spritze für den privaten Konsum wirken kann, ebenso wie der abgewertete Euro die Exportindustrie beflügeln kann.
Auch das vermeintliche Gespenst der Deflation ist bei genauerem Hinsehen gar kein Gespenst. Der größte Teil der niedrigen Inflationsrate geht auf das Konto des gesunkenen Ölpreises, und in den südlichen Ländern müssen sich Löhne und Preise nach unten bewegen, wenn sie ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder erlangen wollen. Der statistisch gemittelte leichte Rückgang der Verbraucherpreise ist jedenfalls nicht mit einer Deflation, also einem breit angelegten und lange anhaltenden Preisrückgang, gleichzusetzen.
Druck aus Frankreich und Italien
Was bezweckt Draghi also mit seinem Programm? Ich vermute, er ist von der Politik, namentlich von Italienern und Franzosen, dazu gedrängt worden. Formal ist die EZB zwar nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank eine unabhängige Institution, aber es wäre vermessen zu glauben, sie agiere in einem politischen Vakuum. Italiener und Franzosen wollen sich weiter Zeit kaufen, weil sie immer noch die notwendigen Strukturreformen scheuen oder sie in ihrem Land nicht durchsetzen können.
Anders ist der letzte Schuss aus der "Dicken Bertha" nicht zu erklären. Denn eine Zentralbank kann keine Konjunkturpolitik machen. Eine neuerliche Geldspritze wird wenig zur Belebung der Wirtschaft und zur Erhöhung des Preisauftriebs beitragen, zumal sich die Zinsen im Euroraum auf einem historisch niedrigen Niveau befinden. Unternehmer investieren nun einmal nicht, weil die Zinsen billig sind. Sondern sie investieren, wenn sie das Gefühl haben, dass sich ihre Absatzaussichten verbessern.
Mit seinem letzten Schuss geht Draghi sogar erhebliche Risiken ein. Denn eine derartige Geldschwemme erhöht die Gefahr, dass sich Preisblasen auf den Immobilien- und Wertpapiermärkten bilden. Und sie nimmt den Druck von der Politik, längst überfällige Reformen anzugehen. Draghis Schuss ist nicht nur voreilig und verfrüht - er kann auch das Gegenteil dessen bewirken, was sich der EZB-Präsident davon versprochen haben mag. Dann wäre die Glaubwürdigkeit und der Ruf der Europäischen Zentralbank endgültig dahin.