Dragqueen holt sich die ESC-Krone
11. Mai 2014Conchita Wurst konnte die Tränen kaum zurückhalten. Schon bevor die letzten Wertungen eintrudelten, stand ihr Sieg fest. Lange war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Niederlanden und Schweden gewesen, doch am Ende triumphierte die bärtige Dragqueen: "Diese Nacht ist allen gewidmet, die an die Zukunft von Frieden und Freiheit glauben", richtete sie sich sichtlich gerührt ans Publikum. "Wir sind alle eine Einheit."
Die Sängerin war schon erklärter Star des ESC in Kopenhagen, bevor der Wettbewerb überhaupt angefangenen hatte. Keiner der Künstler stand so im Fokus der Aufmerksamkeit wie Tom Neuwirth. Das ist Conchitas Alter Ego; der Mann also, der sie auf der Bühne repräsentiert. Und es bleibt weiterhin ein Rätsel, was zum Sieg von Conchita beitrug: ihre gewöhnungsbedürftige Erscheinung oder ihre starke Performance. Ihre gefühlvolle Glamourballade "Rise like a Phoenix" trägt fast schon autobiographische Züge, wurde sie doch in ihrem Leben wegen ihrer sexuellen Orientierung schon oft diskriminiert und angefeindet.
Punkte auch aus Osteuropa
Hatte die Moderatorin Barbara Schöneberger recht, als sie beim deutschen Vorentscheid sagte, der ESC sei eine Mischung aus Christopher Street Day und katholischem Weltjugendtag? Conchita holte sich nämlich die Anerkennung aus allen Ecken Europas. Sogar Russland, das "homosexuelle Propaganda" per Gesetz verbietet und den Auftritt nicht gut hieß, schenkte ihr fünf Punkte und Aserbaidschan immerhin einen.
Putins Reich hat das nicht viel geholfen, obwohl das Land einen hervorragenden 7. Platz belegte. Wenn Russlands Name bei der Punktevergabe genannt wurde, gab es viel zu oft Buhrufe in der Halle. Die ukrainische Sängerin Maria Yaremchuk ließ sich im Vorfeld Seite an Seite mit den russischen Tolmachevy-Zwillingen fotografieren und machte klar: "Wir sind für die Musik hier." Dass ein Land für seine aktuelle Politik auf diese Art und Weise bestraft wurde, gab es beim Eurovision Song Contest noch nie.
Überwältigender Sieg
Genau so wenig wie eine Frau mit Vollbart, der ganz Europa euphorischen Beifall spendete. Viele Journalisten und Fans hatten auf die neue "Queen of Austria" gesetzt. Aber keiner konnte so einen überwältigenden Sieg vorhersagen. Und es stellt sich die Frage, ob ihr Sieg zu mehr Toleranz auf dem Kontinent beitragen wird.
Der langjährige deutsche Kommentator des Wettbewerbs, Peter Urban meint, Europa sei toleranter, als manche denken. Ihm widerspricht der ESC-Kenner Jan Feddersen. Gegenüber der DW sagte er: "1998 gewann die transsexuelle Israelin Dana International in Birmingham. Alle Welt glaubte hinterher, mit ihr habe ein Symbol von Queerness gewonnen." Aber ganz so sicher ist Feddersen sich bis heute nicht.
"Nationale Erfolgsgeschichte"
Das deutsche Damentrio Elaiza schnitt auch bei den internationalen Jurys und Zuschauern nur wenig besser ab als bei den Buchmachern: Sie hatten den Mädels einen der letzten Plätze prophezeit. Am Ende wurde es Platz 18, für die Fans daheim nicht viel besser als der 21. Platz von "Cascada" ein Jahr zuvor. Man sah Ela Steinmetz die Aufregung an. Hätte sie auf der Bühne mehr gelacht, wären vielleicht mehr Punkte drin gewesen. Wie auch immer, der für den ESC in Deutschland zuständige ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber brachte es auf den Punkt: "Elaiza ist eine nationale Erfolgsgeschichte."
Die Musikerinnen haben es in der Heimat mit ihrem Song "It is right?" innerhalb von zwei Monaten von ganz unten bis zu einer Goldenen Schallplatte geschafft. Und wie bei Lena, die 2010 den ESC gewann, stand ganz Deutschland hinter ihnen. Sonst hätten Elaiza, die zunächst von einer Jury aus über zweitausend Bewerbern ausgewählt wurden, beim nationalen Vorentscheid nicht das Ticket nach Kopenhagen lösen können. In der TV-Show "Unser Song für Dänemark" im März durften nur die Zuschauer entscheiden, und sie platzierten das Trio vor der hochkarätigen Konkurrenz von Unheilig bis Santiano.
Als Zuschauer auf dem Highway
Der Eurovision Song Contest in Kopenhagen belegte mal wieder, dass die European Brodcasting Union (EBU) sich auf die Fahnen geschrieben hat, vor allem eine möglichst perfekte Fernsehshow zu liefern. Der ESC ist weniger ein Event des Gewinnerlands oder des Austragungsortes, sondern in erster Linie ein gigantisches TV-Ereignis. In diesem Jahr hatten die Organisatoren, die EBU und das dänische Fernsehen, sich die Marke von über 180 Millionen Zuschauern für die beiden Halbfinal-Shows und das Finale gesetzt. Nicht nur in Europa konnten die Menschen das Spektakel live verfolgen, sondern auch in China, in Australien und zum ersten Mal in Neuseeland.
Im zweiten Jahr in Folge kam weder ein großes Stadion wie in Düsseldorf 2011 noch eine Konzerthalle wie ein Jahr später in Baku zum Einsatz. Die dänischen Gastgeber rüsteten eine alte Werfthalle, in der früher Schiffe gebaut wurden, zu einem Riesenfernsehstudio um. 11.000 Zuschauer fanden hier Platz.
Die riesige Wand hinter der eckigen Bühne mutierte zum LED-Bildschirm. Eine in Quadrate aufgeteilte Stahlkonstruktion auf der Bühne selbst erlaubte alle denkbaren Projektionen und Lichteffekte. Zum ersten Mal wurde auch der Boden, auf dem die Interpreten auftraten, zum Bildschirm. Die Aufnahmen von oben wirkten so besonders spektakulär.
Die Zuschauer hatten das Gefühl, zusammen mit dem niederländischen Duo The Common Linnets auf der Mitte eines Highways zu stehen oder auf einer Blumenwiese - wie beim polnischen Beitrag "My Slowianie". Dass dieses Studio mitten in einem tristen Industriegebiet steht, das zum "Eurovision-Island" ausgerufen wurde, konnte den Menschen draußen an den Bildschirmen egal sein.
Keine Freakshow mehr
Auch wenn so manchem die polnische Performance, die mit mehr Dekolletee als Gesangskunst aufwartete, auf der Bühne sexistisch vorgekommen sein mag, war das Konzert in Kopenhagen am Samstagabend keine "Freakshow". Als solche tituliert der ein oder andere Kritiker den ESC nämlich immer wieder gerne. Alle mehr oder weniger merkwürdigen Beiträge wurden schon im Halbfinale ausgesiebt. Und die restlichen schrillen oder besser gesagt bunten Auftritte behandelten auf witzige Art und Weise durchaus ernste Themen. So ging es im Song "No Prejudice" der isländischen Band Pollapönk nicht nur um das Abschaffen von Vorurteilen aller Art, sondern ganz konkret um Toleranz gegenüber Stotterern. Und das französisch klingende Partylied "Moustache" von Twin Twin ist eigentlich eine Satire auf die Konsumgesellschaft, die mit dem, was sie hat, nie zufrieden ist und immer mehr will.
Neues Verfahren für mehr Spannung
Zum zweiten Mal in Folge hatte die EBU auf eine exakte Auslosung der Startreihenfolge der Teilnehmer verzichtet. Per Los wurde nur entschieden, in welcher Hälfte der jeweiligen Show ein Land auftrat. So kam eine perfekte Mischung aus langsameren und schnellen, kreativen und langweiligeren Nummer zustande.
Auch bei der Bekanntgabe der Punkte durch die einzeln Länder versuchte die EBU, eine Reihenfolge zu schaffen, bei der die Spannung bis zuletzt erhalten bleibt. Die Macher der Show kennen nämlich die Ergebnisse nationaler Jurys, die am Vorabend nach der Generalprobe abgestimmt haben und deren Stimmen zu 50 Prozent ins Voting eingehen. So ganz ist es den Organisatoren nicht gelungen: Conchitas Sieg konnte man schon ziemlich früh ahnen. Und so wird Österreich das erste Mal seit 1966, als Udo Jürgens mit "Merci Chérie" den Titel gewann, wieder Gastgeber des beliebtesten Musikwettbewerbs Europas sein.