Droht die Rückkehr der Euro-Krise?
27. Juni 2024Die Wahlversprechen der äußerst Rechten und Linken in Frankreich haben es in sich - und sie haben eins gemeinsam: Sie sind sehr, sehr teuer. Ganz gleich, ob es um die Rückkehr zur Rente mit 60 geht, die Erhöhung des Mindestlohns oder eine pauschale Steuerbefreiung für Menschen unter 30 Jahren. Durch die in Aussicht gestellten Wahlgeschenke drohen Frankreichs leeren Staatskassen Milliarden an Mehrausgaben. Wo das Geld dafür herkommen soll? Darauf geben weder die äußerste Rechte noch die äußerste Linke in Frankreich eine Antwort.
Für den Ökonomen Friedrich Heinemann spiegelt das eine "Radikalisierung der Wirtschaftspolitik" der extremen Parteien Frankreichs wider. "Das sind ökonomische Programme, die komplett unrealistisch sind. Die wurden komplett für das Nirvana geschrieben, aber nicht für die französische Ökonomie, wie sie sich heute darstellt", sagt der Experte für öffentliche Finanzen am Leibniz Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) im Interview mit der DW.
Zerrüttete Staatsfinanzen
Schon jetzt ächzt die Wirtschaft der zweitgrößten Volkwirtschaft in der EU unter einem Schuldenberg von rund 110 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das Haushaltsdefizit lag im vergangenen Jahr bei 5,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Erlaubt sind nach den Kriterien des Maastricht-Vertrags lediglich 3 Prozent Defizit und eine Staatsverschuldung von maximal 60 Prozent des BIP.
Und es könnte noch schlimmer kommen: Schätzungen zufolge könnten die Wahlgeschenke der französischen Linken und Rechten den französischen Staatshaushalt um Mehrausgaben von bis zu 20 Milliarden Euro belasten, pro Jahr. Einigen Experten zufolge könnte es sogar noch teurer werden.
Was aber macht die EU, wenn es eine rechte oder linke Regierung in Paris einfach darauf ankommen lässt und auf die Maastricht-Kriterien pfeift? "Dafür gibt es schlicht und einfach keinen Plan B", räumt Lorenzo Codogno ein. Er war früher im italienischen Finanzministerium tätig und arbeitet heute als Makroökonomischer Berater für institutionelle Anleger in London.
In Italien sieht es zwar noch schlimmer aus, wenn es um die Staatsfinanzen geht. Das Defizit lag dort 2023 bei 7,4 Prozent, die Staatsschulden rangieren bei rund 140 Prozent der italienischen Wirtschaftsleistung. Aber anders als Emmanuel Macron in Frankreich sitzt die Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Italien fest im Sattel.
"Der Euro würde leiden"
Er sehe zwar auch nach den Neuwahlen in Frankreich "kein Szenario, in dem die Eurozone zerbricht", betont Lorenzo Codogno, der auch an der London School of Economics (LSE) lehrt. "Aber ich sehe ein Szenario, in dem alle europäischen Institutionen in eine Art Patt-Situation geraten, in der im Grunde nichts mehr geht." Alles wäre dann blockiert und es gebe keine politischen Initiativen mehr.
"Das könnte problematisch sein in einer Situation, in der es Handelskriege zwischen den USA und China und eine sehr instabile globale geopolitische Lage gibt. Und in der zwei offene Konflikte in der Nähe der EU-Grenzen ausgetragen werden", so Codogno im Interview mit der DW. Auch am Außenwert der europäischen Gemeinschaftswährung würde das nicht spurlos vorbeigehen und der Euro könnte sich zu einer Weichwährung entwickeln. "Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass der Euro leiden würde, nicht nur die Vermögenswerte, sondern auch die Währung", so der Finanzexperte.
Keine Vorkehrungen gegen populistische Wirtschaftspolitik
Die strengen Vorgaben der Maastricht-Kriterien wurden während der Corona-Krise gelockert und seitdem flexibler gestaltet. Der neue Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung der Eurozone ist gerade erst in Kraft getreten, am 30. April 2024. Die Grenzen für Defizit und Staatsverschuldung gelten zwar weiterhin, doch der neue Rahmen gibt den nationalen Regierungen mehr Spielraum, wie und bis wann sie ihre Finanzen Ordnung bringen.
Das reicht vielleicht trotzdem nicht, befürchtet Codogno. "Frankreich könnte das erste Land sein, das absichtlich die neuen fiskalischen Rahmenvereinbarungen missachtet." Das Erpressungspotential durch hochverschuldete Staaten ist real: In der Vergangenheit folgten auf Verletzungen der Defizit- oder Schuldenregeln durch einzelne Länder keine spürbaren Konsequenzen durch die EU-Kommission oder die Europäische Zentralbank (EZB).
"Das ist ja genau das Problem, in das sich die EZB in den letzten Jahren immer mehr hineinmanövriert hat - indem sie sagt: Wir sind da, um zu helfen", betont Friedrich Heinemann. Das sei zwar in einer akuten Krise wie während der Pandemie segensreich gewesen, um bedrängten Staaten zu helfen. "Aber die EZB darf nicht die Instanz sein, die Euro-Regierungen um jeden Preis liquide hält - selbst dann, wenn die Probleme durch eine irrationale Wirtschaftspolitik verursacht werden", unterstreicht der Staatsschulden-Experte. "Das wäre ein ganz falsches Signal."
Wer kontrolliert die Kontrolleure?
Auch die Europäische Kommission sei in der Vergangenheit Defizitsündern gegenüber oft zu nachsichtig gewesen, rügt Heinemann. Er hält die Schlüsselrolle der EU-Kommission bei der Einhaltung der Schulden-Regeln für einen zentralen Konstruktionsfehler der Eurozone. Als De-Facto-Regierung der EU sei sie wenig geeignet, "ein neutraler Schiedsrichter zu sein über das Schuldenmachen der Mitgliedsstaaten. Weil sie einfach immer in der Situation ist, in einen Handel mit den Mitgliedsstaaten zu treten und Kompromisse einzugehen."
Heinemann wünscht sich bei der Überwachung der Schulden-Regeln mehr Gewicht für den Europäischen Fiskalrat. Der bewertet, ob die EU-Kommission die finanzielle Lage der Mitgliedsstaaten richtig einschätzt und den Stabilitätspakt richtig anwendet. Politisch habe der Fiskalrat aber nichts zu sagen, bedauert Heinemann. "Aber wenn die EU-Kommission ihre Rolle weiterhin so politisiert ausübt, also lieber politische Kompromisse macht als hart durchzugreifen, dann sehe ich schwarz für die Schuldenentwicklung der Eurozone."
Erzwungene Transfers aus dem Norden der EU
Die Motive der Wählerinnen und Wähler in Frankreich, die eine populistische Partei wählen, bringt Heinemann so auf den Punkt. "Diese Wähler sagen: Wir verstehen, dass die Politik, die wir wählen, eigentlich nicht funktioniert. Aber wir können damit Transfers aus Nordeuropa erzwingen - und das ist viel besser, als wenn wir hier zu Hause Sparmaßnahmen erleben."
Dem müsse ein Riegel vorgeschoben werden, warnt der Staatsschulden-Experte: "Sonst kriegen wir ein massives Problem für die Akzeptanz der Europäischen Union in Nordeuropa."