Droht Indiens Demokratie zu scheitern?
18. August 2013Es war ein Anschlag, der Indien bis ins Mark traf. Im Mai 2013 waren etliche hochrangige Regionalpolitiker der regierenden Kongresspartei im Bundesstaat Chhattisgarh auf dem Heimweg von einer Wahlkampfveranstaltung, als sie von maoistischen Rebellen angegriffen wurden. Obwohl ihr Konvoi unter Polizeischutz stand, starben 27 Politiker im Kugelhagel. Einige Dutzend wurden teils schwer verletzt. Schnell wurden Erinnerungen an das Massaker von 2010 im selben Bundesstaat wach. Damals hatten die Maoisten mehr als 70 Polizisten in einer akribisch geplanten Kommandoaktion getötet.
Innere Sicherheit in Gefahr
Der indische Premierminister Manmohan Singh sieht in den maoistischen Rebellen die größte Gefahr für die innere Sicherheit des Landes. In neun Bundesstaaten kämpfen sie. Besonders die östlichen Bundesstaaten Jharkhand und West Bengalen, Chhattisgarh in Zentralindien, aber auch Andhra Pradesh im Süden gelten als maoistische Hochburgen. Nach Angaben der Regierung zählen die Maoisten 20.000 bewaffnete Kämpfer und etwa 50.000 gewaltbereite Kader. Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen gehen davon aus, dass durch maoistische Terroranschläge bereits 10.000 Menschen getötet wurden. Die Rebellen behaupten, seit 40 Jahren für mehr Gerechtigkeit für Arme und Entrechtete zu kämpfen, vor allem für die im indischen Kastensystem ganz unten stehenden sogenannten Unberührbaren und für die Ureinwohner Indiens. Besonders aktiv sind die Maoisten in den wenig entwickelten Regionen, die bisher kaum vom Wirtschaftsboom profitierten. Dort genießen sie in der Bevölkerung teils große Sympathien.
Der renommierte Soziologe Yogendra Yadav aus Neu Delhi ist besorgt darüber, dass die Menschen in Indien sich von der Politik nicht ernst genommen fühlen. Im Gespräch mit der Deutschen Welle erklärt er diese von ihm wahrgenommene Entfremdung so: "Viele Entscheidungen, die auf höchster Ebene getroffen werden, machen für die Menschen keinen Sinn." Denn sie hätten das Gefühl, dass die Entscheidungen, die irgendwo in einer Großstadt getroffen werden, mit ihrer Lebenswirklichkeit nichts zu tun hätten. "Sie denken, dass niemand ihr tatsächliches Leid versteht." Trotz Indiens funkelnder Megastädte wohnen noch immer zwei Drittel der Bevölkerung auf dem Land. Die Mehrheit lebt von der wenig profitablen Landwirtschaft.
Terrorismus und Separatismus
Indiens Politik trägt nach Meinung von Experten wie Yogendra Yadav eine Mitschuld daran, dass es immer wieder zu Anschlägen und Unruhen im Land kommt. Das mit 1,2 Milliarden Menschen zweitgrößte Land der Welt ist ein Schmelztiegel der Kulturen, Ethnien und Religionen. Und diese Tatsache nutzen die großen Parteien besonders im Vorfeld von Wahlen zur Mobilisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen. So sorgte der Generalsekretär der regierenden Kongresspartei Shakeel Ahmad Ende Juli für Aufregung. Er behauptete, die Unruhen zwischen Hindus und Muslimen in Gujarat vor mehr als elf Jahren seien der Auslöser dafür gewesen, dass die Terrorgruppe "Indian Mujahideen" so stark werden konnte. Mit dieser Aussage wollte Ahmad wohl vor allem unter den Muslimen in Indien Sympathien gewinnen.
Damals, im Februar 2002 hatten muslimische Extremisten einen Zug mit hinduistischen Pilgern angegriffen, 58 Menschen verbrannten. In den darauffolgenden Racheakten starben Schätzungen zufolge 2000 Menschen. Die meisten davon waren Muslime. Die Terrorgruppe "Indian Mujahideen" trat zum ersten Mal 2007 in Erscheinung und hat seither zehn Anschläge auf touristische und religiöse Ziele verübt. Wie stark die Gruppe ist, darüber gibt es keine gesicherten Angaben. Die Kongresspartei pfiff Ahmad zurück und stellte klar, sie dulde keinerlei Verständnis oder gar Sympathie für Terrorgruppen, egal, ob der Terror religiös motiviert ist oder wie in den nordöstlichen Bundesstaaten auf ethnischen Unterschieden beruht - wo sich separatistische Bewegungen formiert haben, die für mehr Autonomie kämpfen.
Korruption und Bürokratie
Korruption und Bürokratie gelten als weitere Übel, die den Glauben der Menschen an die Demokratie in Indien erschüttern. Schon in den 1980er Jahren hatte der damalige Premierminister Rajiv Gandhi gesagt, dass von einer Rupie, die die Regierung für die Entwicklung ausgibt, auf dem Land tatsächlich nur zehn Prozent ankommen. In die letzten großen Korruptionsskandale rund um die Commonwealth Games 2010, um die Vergabe von Mobilfunklizenzen oder Kohleminen waren sogar Minister verwickelt: "Das Problem ist, dass die Korruption fest in den Köpfen der Menschen verankert ist. Sie glauben, dass sich ohne Geld zu bezahlen, nichts bewegt, dass sie nichts erreichen können", sagt der ehemalige Staatssekretär im Innenministerium Madhukar Gupta der Deutschen Welle. Weil die Korruption so allgegenwärtig ist, unterstützten die Menschen auch so zahlreich den Bürgerrechtler Anna Hazare. Er hatte 2011 mit Massendemonstrationen von der Regierung mehr Transparenz gefordert.
Gupta kritisiert die Trägheit des Systems, das dringend notwendige Reformen durch die überbordende Bürokratie bremst. Und die beiden großen Parteien, die Kongresspartei und die derzeitige Oppositionspartei BJP, seien von kleinen Koalitionspartnern abhängig. Trotzdem ist Gupta verhalten optimistisch. "In der Politik in Indien ist es heute so, dass jeder Politiker irgendwie versucht, seine Position zu wahren. Dies vorausgesetzt glaube ich trotzdem, dass gute Ideen und Entscheidungen auch mit diesem System noch umgesetzt werden können."
Keine Lösung in Sicht
Doch der Weg zu mehr Transparenz ist nach Ansicht des Soziologen Yogendra Yadav noch weit. Er will eine Reform aus dem politischen System heraus. "Um eine alternative Politik einzuführen, um die Regeln des politischen Prozesses zu ändern, muss man dieses Spiel zunächst mitspielen und Wahlen gewinnen." Der ehemalige Politiker Madhukar Gupta schlägt einen anderen Weg vor. Er will die Lebenssituationen verbessern und so das politische System von unten her stärken: Wichtig sei vor allem, dass immer mehr Menschen Bildung erhielten und der technische Fortschritt auch in den entlegensten Dörfern einziehe, dort, wo es teilweise noch immer keinen Strom oder fließendes Wasser gibt. "Dieser Wandel wird zu mehr Transparenz führen, zu einer schnelleren Reaktion des Systems."