DVD-Tipp: Expressionismus, Trümmer & Avantgarde
5. Oktober 2010Eigentlich kann man die DVD-Reihe der "Edition Filmmuseum" gar nicht genug würdigen. Immer wieder gelingt es dieser von verschiedenen internationalen Filmmuseen und -archiven (federführend ist das Filmmuseum München) herausgegebenen Sammlung, vergessene Filmschätze aufzuspüren, zu rekonstruieren und restaurieren und damit wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu holen. Oft werden diese Filme bei einem Festival nach langer Zeit erst einmal vor großem Publikum gezeigt, bevor sie dann auf DVD erscheinen.
"Von morgens bis mitternachts" (1920)
Oft ist der Weg der Wiederbeschaffung eines vergessenen Films mindestens ebenso aufregend wie das Kunstwerk selbst. Der Stummfilm "Von morgens bis mitternachts" entstand im Jahre 1920, wurde dann vereinzelt in Deutschland gezeigt, feierte aber erst in Japan einen kleinen Triumph: "Dieser Film ist wohl einer der besten unter den expressionistischen Filmen, die bisher in Japan gezeigt wurden", schrieb ein japanischer Kritiker damals. In Deutschland galt der Film lange als verschollen. Filmhistoriker begaben sich dann auf Spurensuche, entdeckten zunächst aber nur Zwischentitel. Eine Kopie des Films wurde schließlich in einem Archiv in Tokio gefunden.
"Von morgens bis mitternachts" ist die mit wenig Mitteln umgesetzte Filmversion des bekannten gleichnamigen Theaterstücks von Georg Kaiser. Dekor, Kulissen, Filmarchitektur, die geschminkten Darsteller, das Spiel, die verzerrten Zwischentitel, all das erinnert an den wohl berühmtesten deutschen Stummfilm der Zeit, "Das Cabinet des Dr. Caligari". Das Kaiser-Drama erzählt die Geschichte eines Bankkassierers, der sich eines Tages die Geldbündel in die Hosentaschen steckt und sie zunächst mit Freuden ausgibt. Bis er schließlich erkennt, dass all der Reichtum seine Schattenseiten hat. Das lässt ihn verzweifeln. Am Ende steht der Selbstmord. Wenn man mag, kann man in Weltfinanzkrisenzeiten auch in solch einem 90 Jahre alten Film viel Aktuelles entdecken.
"München 1945" (1945)
Kaum vorstellbar, dass sich unmittelbar nach Ende des Krieges Menschen vor allem für Kameras, Filmmaterial und Schauplätze interessierten. Der ehemalige Bankangestellte und spätere Schauspieler, Autor und Regisseur Willi Cronauer tat genau das. Nach dem Einmarsch der Amerikaner in München gelang es ihm, die US-Offiziere der Militärregierung von seinem Filmprojekt zu überzeugen. Cronauer wollte die zerstörte Stadt auf Zelluloid bannen. Ungeschminkt und ohne filmischen Mätzchen. Gezeigt werden sollten die Trümmer der einstmals stolzen Stadt, die einzelnen Viertel, die zerbombten Häuser, Kirchen, Museen.
Mit einem kleinen Team machte sich Cronauer an die Arbeit - das Ergebnis ist auch heute noch verblüffend. Wie von anderen deutschen Städten war auch von der bayrischen Metropole nur noch ein Trümmergerippe vorhanden: zerbomte Mauern, Steinhaufen, eingestürzte Häuser und verschüttete Straßen. Cronauers Kamerafahrten durch München ergeben ein eindrucksvolles Bild der Zerstörung. Gleichzeitig ist sein Werk, um den es in den Nachkriegsjahrzehnten zähe gerichtliche Auseinandersetzungen gab, ein filmisches Dokument ersten Ranges.
"Die Parallelstraße" (1962)
Im Februar 1962 unterzeichneten bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen 26 Filmemacher ein Manifest für ein neues, modernes deutsches Kinos, das Geschichte machen sollte. Mit dabei war auch der in der Tschechoslowakei geborene Ferdinand Khittl. Er verlas damals bei der offiziellen Vorstellung das "Oberhausener Manifest", das eine "neue Sprache des Films" und eine "Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner" forderte. Heute ist Khittl den wenigsten noch ein Begriff, anders als Mitunterzeichner wie Alexander Kluge, Edgar Reitz oder Peter Schamoni.
Khittl hatte sich in verschiedenen Berufen versucht, fuhr jahrelang zur See, war Bäcker, Hühnerzüchter und Barkeeper. In der 1950er Jahren kam er mit dem Film in Kontakt, war unter anderem Cutter bei Luis Trenker. Dann drehte er erfolgreich Kultur-, Dokumentar- und Industriefilme. Sein 1962 fertiggestellter Film "Die Parallelstraße" sollte bis auf eine Ausnahme sein einziger abendfüllender Film bleiben. Ein Werk, das sich sämtlichen Kategorien entzieht.
In einer kafkaesk anmutenden Rahmenhandlung müssen fünf Männer vor einem "Richter" Kurzfilme beurteilen. Von diesen angeblich 308 Dokumenten bekommt der Zuschauer 16 zu sehen. Es sind Kulturfilmen verwandte Filmschnipsel aus allen Teilen der Erde, ein Film über Wasser und Erosion etwa, über einen Vulkan, über die Stadt Brasilia. Es sind aber auch surreale Werke dabei, einmal wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der den umgekehrten Lebenslauf vom Tod zur Geburt erlebt. Die fünf Männer sind bei der Beurteilung der Filme von Anfang an zum Scheitern verurteilt - das zumindest legen die Kommentare des Richters nahe. Ein Kritiker brachte es damals so auf den Punkt: "In einem Kafka-Raum sitzen fünf Ionesco-Personen in einer Sartre-Situation und mühen sich mit einem Camus-Problem."
Die Filme sind in der "Edition Filmmuseum erschienen" (Nr. 45, 47, 55). Auf den DVDs sind weitere Filme zu sehen, Dokumentationen, Interviews. "München 1945" wird ergänzt durch den 1947 entstandenen Spielfilm "Zwischen gestern und morgen".
Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Klaus Gehrke