Dürfen auch Syrer bald auf Kurzbesuch in die Heimat?
12. Januar 2025Das Telefon klingelt an diesem 8. Dezember nur zweimal, da hat Anwar al-Bunni den Anruf schon angenommen. Es ist der Tag, an dem syrische Rebellen Präsident Baschar al-Assad stürzen und die Hauptstadt Damaskus einnehmen.
Al-Bunni leitet das regierungsunabhängige Syrische Zentrum für juristische Studien und Forschungenmit Sitz in Berlin und hat mehr als ein Jahrzehnt damit verbracht, Zeugenaussagen zu Verbrechen gegen Syrer und Syrerinnen zu dokumentieren und Beweise zu sammeln, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch das Assad-Regime zu belegen. An diesem 8. Dezember hoffte er auf den Rückruf einer Kontaktperson in der deutschen Regierung und auf Neuigkeiten über seinen Antrag, nach Syrien zu reisen, ohne seinen Flüchtlingsstatus innerhalb der Europäischen Union zu verlieren.
"Wir müssen zurückgehen. Ich muss zurückgehen und das Land mit aufbauen"; sagt er gegenüber der DW. "Alle wollen nach Syrien und sich umsehen. Einige kehren vielleicht nach Deutschland zurück und nehmen ihr Leben hier wieder auf, aber andere bleiben vielleicht ganz, jetzt oder nachdem sie ihr Zuhause und ihre Gemeinschaft wiederaufgebaut haben."
In ganz Europa feierten Syrer den Sturz Assads, doch viele sind unsicher, ob die Bedingungen vor Ort eine Rückkehr zulassen. Laut der UN-Flüchtlingshilfe UNHCR benötigen 90 Prozent der Bevölkerung in Syrien humanitäre Unterstützung. Mehr als 40 Prozent der Krankenhäuser sind laut UN-Habitat, dem Programm der Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen, nicht vollständig einsatzbereit und einem Bericht der Weltbank zufolge müssen 96 Prozent der Menschen in dem vom Krieg zerstörten Land mit weniger als sieben US-Dollar (6,75 Euro) am Tag auskommen.
Zeit für eine Rückkehr?
Weniger als einen Monat, nachdem syrische Rebellen Damaskus erobert hatten, trafen die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und ihr französischer Amtskollege Jean-Noël Barrot die neue Führung des Landes. Damit solle die Bildung einer inklusiven Regierung gefördert werden, betonten EU-Beamte. Der Block wolle eine aktive Rolle dabei spielen, die Syrer bei der Gestaltung ihrer Zukunft zu unterstützen.
Aktivisten hegen jedoch den Verdacht, dass auch der Wunsch, möglichst schnell die Voraussetzungen für die Rückführung syrischer Geflüchteter zu schaffen, einer der Gründe für den kurzfristig geplanten Besuch war. Einige EU-Länder, darunter auch Deutschland, haben Entscheidungen über Asylanträge von Syrern vorerst ausgesetzt. Manche Politiker haben bereits angedeutet, dass Abschiebungen bald wieder durchgeführt werden könnten.
Besuche könnten freiwillige Rückkehr erleichtern
Rechtsexperten und Aktivisten in mehreren europäischen Hauptstädten erklärten gegenüber der DW, dass es leichtere Wege gäbe, eine freiwillige Rückkehr zu fördern: die Möglichkeit für Syrer in Europa, für kurze Besuche in ihr Heimatland zurückzukehren und ihr Zuhause wiederaufzubauen, ohne befürchten zu müssen, damit ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren.
Sie sind der Meinung, dass europäische Regierungen ihre eigenen Ziele unterlaufen, wenn sie syrischen Geflüchteten nicht die Möglichkeit geben, mit eigenen Augen zu sehen, ob ihre Häuser und Wohnungen noch stehen. Sie weisen außerdem auf die unterschiedliche Behandlung syrischer und ukrainischer Geflüchteter in Europa hin.
"Ukrainern ist es gestattet, für kurze Besuche in die Ukraine zurückzukehren, zum Beispiel um Besitz zu verwalten oder Verwandte zu unterstützen, ohne ihren Schutzstatus in der EU zu verlieren", erklärt Catherine Woollard, Direktorin des Europäischen Rates für Flüchtlinge und Exil, einer Lobbyorganisation für Flüchtlingshilfe in Brüssel, der DW.
"Ein ähnlicher Ansatz sollte bei Geflüchteten aus Syrien verfolgt werden. Im Moment ist es nahezu sicher, dass sie ihren Schutzstatus verlieren würden", fügt sie hinzu. "Wären kurze Besuche erlaubt, um alte Verbindungen wiederherzustellen, würde das die Zahl der Rückkehrer vermutlich erhöhen."
Der französische Aktivist Gerard Sadik ist bei der regierungsunabhängigen französischen Organisation La Cimade für Asylfragen zuständig. Er ist wie Woollard der Meinung, dass das größte Problem, das Syrer in Europa gegenwärtig haben, die fehlende Möglichkeit ist, Erkundungsbesuche in das Heimatland zu unternehmen, ohne den Schutzstatus zu verlieren.
"In den Neunzigern durften Bosnier solche Besuche machen. Heute dürfen es die Ukrainer. Aber nicht die Syrer, zumindest nicht im Moment", führt er aus. "Syrer, die mittlerweile die französische Staatsangehörigkeit besitzen, können nach Syrien reisen und zurückkommen. Aber andere haben Angst, dass sie hier alles verlieren, ihr Zuhause, die Schulen, alles."
Unterschiedliche Regeln für Ukrainer und Syrer
Die unterschiedliche Behandlung von Ukrainern und Syrern in der EU ist darauf zurückzuführen, dass den beiden Gruppen unterschiedliche Schutzformen angeboten wurden.
Syrer erhalten Schutz über das Asylrecht, das sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 stützt. Ukrainer dagegen erhalten einen vorübergehenden Schutzstatus, der vor zwei Jahrzehnten aufgrund der massiven Migration in die EU hauptsächlich wegen des Bosnienkonflikts eingeführt wurde.
Als Russland 2022 in die Ukraine einmarschierte, aktivierte die EU diesen vorübergehenden Schutzmechanismus für die vor dem Krieg fliehenden Ukrainer. Ihnen sollte Schutz geboten werden, ohne die bereits durch die Geflüchteten aus Nahost überbeanspruchten Asylsysteme zusätzlich zu belasten.
Dieser vorübergehende Schutzstatus gibt Geflüchteten die Möglichkeit, ihr Heimatland zu besuchen und wieder in den Schutz gewährenden Aufnahmestaat zurückzukehren. Wenn der Krieg endet, wird von ihnen jedoch erwartet, in ihr Heimatland zurückzukehren. Den meisten Syrern wurde der Flüchtlingsstatus oder ein subsidiärer Schutz zuerkannt. Solche Personen haben das Recht, eine Abschiebung anzufechten.
Kurze Besuche kein Grund für Aberkennung des Schutzstatus
Einige Aktivisten sind der Überzeugung, dass laut der EU-Anerkennungsrichtlinie auch syrischen Geflüchteten der Besuch in der Hemat gestattet ist, ohne den Schutzstatus zu verlieren. Sie argumentieren, dass der Schutzstatus nur aberkannt werden kann, wenn Geflüchtete sich im Heimatland auf Dauer niederlassen.
"Die EU-Anerkennungsrichtlinie gilt für alle Mitgliedsstaaten und sieht eine Beendigung des Schutzes vor, wenn man wieder im Heimatland Schutz sucht oder sich dort wieder niederlässt", sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin der deutschen Organisation Pro Asyl. "Das unterscheidet sich unserer Meinung nach von kurzen Besuchen, beispielsweise um schwer kranke Verwandte zu besuchen oder um im Falle von Syrien zum Beispiel verschwundene Familienmitglieder zu suchen.
"Man könnte auch sagen, dass eine Genehmigung solcher Besuche im Interesse der europäischen Regierungen ist, die möchten, dass Geflüchtete ausreisen. So können die Menschen sehen, ob sie sich in ihrem Heimatland eine Zukunft aufbauen können", betont Judith. "Die Kurzbesuche sollten jedoch nicht als Vorwand genutzt werden, um einen noch immer notwendigen Schutzstatus zu entziehen."
Anwar al-Bunni berichtet, dass er sich gemeinsam mit neun weiteren syrischen Vertretern der Zivilgesellschaft mit deutschen Regierungsvertretern getroffen hat, um zu beantragen, dass Syrern die vorübergehende Rückkehr genehmigt wird. Ihnen wurde versichert, die Regierung würde die Angelegenheit prüfen.
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.