Eginald Schlattner zum Neunzigsten: Ein Leben wie ein Roman
12. September 2023DW: Deutsche Muttersprache, rumänischer Pass: Was bedeutet Heimat für Sie?
Eginald Schlattner: Ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zur Heimat - zum Wort, nicht zur Heimat selbst. Es ist oft missbraucht worden, vor allem in der Nazizeit. Die Heimat-Literatur der 30er-Jahre, das alles hat einen seltsamen Beigeschmack. Das Eigentümliche ist doch, es gibt das Wort "Heimat" nur im Deutschen. Es muss also mit einer gewissen Gemütsverfassung des deutschen Wesens zu tun haben. Es gibt natürlich schöne Beschreibungen und Schilderungen über das, was Heimat ist. Heimat ist der Ort, wo du dich nicht zu erklären brauchst. Damit kann ich schon etwas anfangen.
Sie müssen sich nicht erklären?
Sage ich hier in Rumänien, ich bin ein Siebenbürger Sachse, sofort wissen alle Bescheid. Wenn man nach Deutschland kommt und dort sagt, man sei ein Deutscher aus Rumänien, gibt es keine Resonanz. Wenn du aus Rumänien kommst, bist du ein Rumäne, man fragt dich: Warum sprichst du Deutsch? Dabei war das Deutsche für mich selbstverständlich, von Kind auf. Rumänisch konnte ich die längste Zeit nicht. Dass es die Auswanderung der Siebenbürger Sachsen vor 900 Jahren gab (in das damals unter ungarischer Herrschaft stehende Siebenbürgen, Anmerkung der Redaktion), dass wir hier seitdem weiterleben - das ist etwas, was der Binnendeutsche nicht versteht.
Haben Sie je eine Verbundenheit mit diesen "Binnendeutschen" gespürt - abgesehen von der Sprache?
Natürlich in der Zeit, wo ich als Hitlerjunge im Braunhemd herumgestiefelt bin. Ich habe mit dem Deutschen Reich mitgefiebert. Hitler war für uns Jungen ein Halbgott. Ich habe das meinem Vater nie so richtig nachsehen können, dass er für diese Dinge, den deutschen Nationalismus, nichts übrig hatte. Dann kam aber die Zeit, wo ich immer stärker meinem Vater Recht geben konnte - und Recht geben musste.
Wenn Sie mit Ihren 90 Jahren zurückblicken: Was war die schwierigste Entscheidung, die Sie in Ihrem Leben treffen mussten?
Ich bin Ende Dezember 1957 von der rumänischen Geheimpolizei verhaftet worden. Am 5. Mai 1958 habe ich mich zum ersten Mal freiwillig zum Verhör gemeldet und der Securitate dieses Angebot gemacht: Was ihr mich fragt, werde ich nach bestem Wissen und Gewissen beantworten.
Warum?
Ich hatte keine Kraft mehr, mich zu widersetzen, indem ich ihre Fragen entweder nicht oder falsch beantwortete. Mit den Nachtbefragungen haben sie mich kaputtgemacht: 24 Stunden am Tag gab es keinen Ort, wo sie nicht nach mir hätten greifen können - viereinhalb Monate lang. Trotzdem ist da dieser ständige implizite Vorwurf, man sei im Verhör eingeknickt. Mein Bruder hat einmal einem Journalisten gesagt: 'Wir haben doch alle nachgegeben.' Und ich sage auch: Sollen wir jetzt eine Hierarchie aufstellen, wer länger nein gesagt hat? Das ist doch lächerlich.
Die Securitate machte Sie zum Kronzeugen im sogenannten Kronstädter Schriftstellerprozess, bei dem fünf deutschsprachige Schriftsteller zu teils langen Haftstrafen verurteilt wurden. Was machte der Prozess mit der deutschen Minderheit?
Man wollte sie zerstreiten - was gelungen ist. Dass all diese Prozesse in Kronstadt statt Bukarest über die Bühne gegangen sind, hängt damit zusammen, dass in Kronstadt die Führung der deutschen Volksgruppe Rumäniens ihren Sitz hatte. Das war Absicht.
Und was machte der Prozess mit Ihnen?
Von den Schriftstellern habe ich manche beim Prozess zum ersten Mal gesehen. Ich hatte ja mit ihnen nichts zu tun. Ich hatte einen Literaturkreis in Klausenburg gegründet, war nur einige Male mit ihnen zusammen gewesen. Was mir noch lange nachhing: diese konsequente Bösartigkeit, mit der manche Siebenbürger Sachsen danach auf mich blickten.
Heute ist klar: Sie hatten kaum eine Alternative, als die Ihnen zugewiesene Rolle im Schauprozess anzunehmen. Spüren Sie dennoch manchmal so etwas wie Reue?
Nein, Reue empfinde ich keine. Reue ist sowieso ein seltsamer Begriff. Ich habe damals keine Alternative gesehen, um meine Studenten aus dem Literaturkreis vor einem Schauprozess zu bewahren, bei der sie einer Verschwörung bezichtigt worden wären, die es so nicht gegeben hat.
Diese asymmetrische Fokussierung der Zeugenrolle nur auf meine Person, das ist etwas, was mir verquer kommt. Beim Schriftstellerprozess gab es diverse Belastungszeugen. In den Biografien der anderen wird doch auch nicht erwähnt, dass sie im Prozess waren. Nur auf mir wird herumgeritten.
Sie wurden zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, die aber mit der Untersuchungshaft schon als abgegolten galten. Was hat die Zeit dort mit Ihnen gemacht?
Ich war nach zwei Jahren Untersuchungshaft mit Fragen so durchlöchert, dass ich jeder Frage aus dem Weg gegangen bin, auch wenn man mich nur gefragt hat: Was hast du heute gegessen? Und dann habe ich mich abgegrenzt, indem ich mich sehr kommunistisch gegeben habe in unseren Kreisen.
Trotz fast abgeschlossenem Hydrologie-Studium bekamen Sie nach dem Gefängnis nur eine Arbeit als Tagelöhner.
Das war die schwierigste Zeit meines Lebens. Ich habe damals Schlafen gelernt wie ein Pferd. Kaum waren zehn Minuten Pause, schon schlief ich im Stehen. In der Ziegelfabrik habe ich mit Roma zusammengearbeitet - und die haben für mich gesorgt. Denn nach drei Tagen hatte ich blutige Hände. Und dann sind sie nicht zum Ingenieur gegangen und haben gesagt: "Nehmen Sie diesen Sachsen weg, der vermasselt uns die Arbeit." Sondern sie haben gesagt: "Versteck dich, schau, dass dich der Direktor nicht entdeckt, wir arbeiten für dich nach." Ich erlebte dort die Solidarität dieser Ausgegrenzten, die ja in Rumänien so behandelt werden wie die Samariter in der Bibel. Das hat mir die Augen geöffnet.
Bereuen Sie es manchmal, dass Sie nicht weggegangen sind - nach der Haft, oder spätestens in den 90er-Jahren, als die Gemeinschaft der Sachsen schlagartig schrumpfte?
Nie, nicht eine einzige Nacht.
Wieso? Dass Sie später einmal die Chance bekommen würden, Ingenieur und schließlich Pfarrer zu werden, konnten Sie da kaum ahnen.
Es wäre ein radikaler Bruch in meiner Identität gewesen als Siebenbürger Sachse. Die ist gegeben, indem ich in Siebenbürgen bin. Das Thema ist natürlich an mich herangetragen worden, weil mit der Zeit meine ganze Familie ausgewandert ist: meine Tochter, meine Frau, meine Mutter, meine Brüder, alle. Ich habe hier nur noch Verwandte in Gräbern.
Auch Ihre Kirche verwaiste zunehmend. Sie haben 17 Jahre lang vor leeren Bänken gepredigt. Warum?
Erstens habe ich unseren Herrgott bedauert, der sich nach 850 Jahren auf einmal in einer leeren Kirche vorfindet. Und zweitens habe ich auch mir gepredigt. Jede Predigt geht erst einmal durch dich. Und wenn ich dort tatsächlich lauthals eine Predigt gehalten habe - auf Deutsch, denn die leeren Bänke verstehen jede Sprache - dann war das auch sehr stark an mich gerichtet. Vielleicht bin ich da auch getrieben. Ein Pfarrer hat sich am Sonntagvormittag in die Kirche zu bewegen.
Inzwischen haben Sie gelegentlich wieder Besucher in der Kirche - selten Sachsen.
Jeder ist mir lieb, jeder ist mir willkommen. Ich habe nicht darunter gelitten, wie ich allein dort war, und freue mich jetzt an jedem, der kommt. Schon ganz am Anfang habe ich gesagt, 1978, als ich Pfarrer in Rothberg wurde: Die Türe des Pfarrhofs ist offen für jedermann.
Mit Ihrem letzten Roman "Brunnentore" haben Sie inzwischen große Teile Ihrer Biografie literarisch verarbeitet. Geht Ihnen langsam das Schreibmaterial aus?
Auf keinen Fall wird mir das passieren, was einem österreichischen Kollegen passiert ist, der zwei, drei Bücher über seine Biografie geschrieben hat - und plötzlich war nichts mehr da, und er hat sich erschossen. Im Gegenteil: Ich muss immer dafür beten, dass mich der Heilige Geist bremst in seiner Erzählfreudigkeit, mit der er mich heimsucht. Ich habe das Gefühl, noch immer strecke ich mich aus nach Orten, wo ich viel Zeit am Stück habe. Ich hoffe, wenn ich meine Geburtstagfeier hinter mir habe, dass ich dann wieder in ein Kloster gehen kann.
Das heißt, auch nach 90 Jahren wünschen Sie sich vor allem noch mehr Zeit?
Ja, mehr Zeit am Stück. Pfarrhof bedeutet, dass man manchmal nicht zum Schlafen und zum Beten kommt. Habe ich dagegen Zeit, geht meine Erzählfreudigkeit auch mal mit mir durch. Dann will ich etwas in zwei Sätzen sagen - und plötzlich ist eine Miniatur draus geworden.
Eginald Schlattner wurde 1933 in Arad, Rumänien, geboren. Er ist Schriftsteller und Pfarrer. Seine bekanntesten Romane sind die autofiktionalen Werke "Der geköpfte Hahn" und "Rote Handschuhe". 1957 wurde Schlattner als Student von der kommunistischen Geheimpolizei Securitate verhaftet und zum Hauptzeugen im Kronstädter Schriftstellerprozess aufgebaut. Schlattner selbst wurde wegen "Nichtanzeige von Hochverrat" verurteilt. Nach seiner Entlassung 1959 arbeitete er zunächst als Tagelöhner, dann als Ingenieur, schließlich als Pfarrer.
Das Interview führte Astrid Benölken.