Ein Besuch in Guantanamo
4. Januar 2006Flug 505, Paradise Island, Abflug 2:30 Uhr, kündigt der Bildschirm am Flughafen von Fort Lauderdale/Florida an. Eine Zeile darunter der Flug mit einer Gesellschaft namens "Lynx": Flug 510, Guantanamo, Abflug 3.00 Uhr. Von Fort Lauderdale erreicht man Ziele in der Karibik in wenigen Stunden. Traumziele aus dem Ferienprospekt. Oder den Albtraum Guantanamo. Was sonst ist ein Gefangenenlager aus Stacheldraht, in dem Häftlinge ohne Anklage seit Jahren festgehalten werden? Ein Gulag unserer Zeit, sagt Amnesty International. Das beste Rekrutierungswerkzeug für El-Kaida sagt die "New York Times". Was passiert im Lager von Guantanamo?
Das US Militär hat unserem Antrag zugestimmt, das Lager zu besichtigen und dort zu filmen. Drei Tage lang. Die Regeln sind klar abgesteckt: filmen ja, aber das Militär behält sich das Recht vor, sämtliches Material zu sichten und aus Gründen der "Sicherheit" zu zensieren. Als ich in Kuba lande, wartet bereits eine Militäreskorte auf mich. Von nun an bin ich von morgens bis abends in der Obhut von Soldaten der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit. Man wird mich nicht aus den Augen lassen, bis ich das Flugzeug für den Rückflug besteige.
Eine amerikanische Kleinstadt in Kuba
Mein Quartier ist ein großzügiges Gästehaus auf einer Straße, die sich kaum unterscheidet von Wohnstraßen irgendwo in den USA - außerhalb des Gefangenenlagers gleicht der Stützpunkt einer amerikanischen Kleinstadt. Im Radio ist es fast unmöglich, einen kubanischen Radiosender zu empfangen. Stattdessen habe ich 45 amerikanische Stationen im Kabelfernsehen.
Vor dem Besuch der Gefangenencamps werden mir die wichtigsten Fakten und Zahlen präsentiert: 16 Prozent der Gefangenen haben großen Wert für die Geheimdienste und sind in einem Gefängnis mit speziellen Hochsicherheitstrakten untergebracht. Sechs bis acht Prozent der Gefangenen werden wegen psychischer Krankheiten behandelt. Manche basteln Waffen. Eine Würgeschlinge aus Resten von Essensverpackungen wurde gefunden. Ein Foto zeigt das Beweisstück neben einem Lineal zur Verdeutlichung der Dimension. Man erzählt mir von den Kuriositäten Guantanamos. Auch von den Chinesen.
Die Zensurbehörde ist immer dabei
Man hat Chinesen gefangen genommen und würde sie gerne wieder loswerden. Nur: Man weiß nicht wie. Es sind Männer, die dem Volksstamm der Uiguren angehören, einer muslimischen Minderheit aus dem äußersten Nordwesten Chinas, die in der pakistanischen Grenzregion regen Handel treibt. Sie wurden im Kampf gegen den Terror aufgelesen und nach Guantanamo gebracht. Dann wurde klar: Die Männer sind keine Bedrohung für die USA. Aber nach China kann man sie nicht ausliefern, denn China fürchtet uigurische Separatisten und Guantanamo ist für Uiguren ein undankbarer Punkt im Lebenslauf. "China würde Organspender aus denen machen", seufzt einer meiner Begleiter. Die Uiguren wohnen immer noch in Guantanamo.
Zur Einführung in den Lageralltag gehört auch ein Gespräch mit Gefängniswärtern. Wir führen die Unterhaltung im "Club Survivor", einem Cafe gleich neben dem Gefangenenlager. Es gibt Starbucks-Kaffee. Die Wärter, so erfahre ich, werden in manchen Camps von den Gefangenen mit Urin und Kot beworfen, "Cocktails" heißt das bei den Soldaten. Von Folter oder Missbrauch von Gefangenen will man hier nichts wissen. Solchen Vorwürfe wird mit dem so genannten Manchester Dokument begegnet: ein El-Kaida-Handbuch, das der Polizei in Manchester in die Hände fiel, und in dem El-Kaida empfiehlt, in der Gefangenschaft Foltervorwürfe gegen Bewacher zu erheben. Ob hier gefoltert wurde oder nicht, ist nicht zu überprüfen. Gespräche mit Gefangenen sind nicht erlaubt. Auch die Gespräche mit den Wärtern werden unter Aufsicht geführt: Eine Dame der "Operativen Sicherheit" ist stets anwesend und die Augen meiner Interviewpartner wandern stets hin und her, um sich der Zustimmung der Zensurbehörde zu vergewissern.
Nur Sichtkontakt zu den Gefangenen
Insgesamt zweimal öffnen sich für mich die Gefängnistore von Camp Delta, dem Hochsicherheitsgefängnis von Guantanamo Bay. Es besteht aus fünf Einzelcamps, drei davon darf ich besichtigen. Es gibt einen Gefängnisbau aus Beton und Stahl für die Gefangenen, die die Geheimdienste für besonders wertvoll halten. Außerdem zwei offene Camps für Gefangene, die sich kooperativ zeigen und zwei strengere Camps für Gefangene, die den Wärtern Ärger bereiten. Ich habe Sichtkontakt zu den Gefangenen, die sich in einem der Camps in abgezäunten Bereichen frei bewegen können. Manche der Männer verbergen sich vor der Kamera, andere ignorieren mich, wieder andere starren mich durchdringend an. Aber niemand gestikuliert oder ruft mir etwas zu.
Die Gefängnisbereiche, die mir gezeigt werden, gleichen denen von Gefängnissen in den USA. Selbst Küchen und Vorratsräume werden für die Kamera geöffnet, um mitzuteilen, dass Guantanamo hohe Versorgungsstandards hat. Warum, fragen mich Soldaten, warum versuchen die Medien das Bild von Guantanamo zu manipulieren? Warum werden im Fernsehen immer noch Bilder von Gefangenen in Camp X-Ray gezeigt, wo die Haftbedingungen katastrophal waren? Dem ersten Lager, das mittlerweile geschlossen und von Pflanzen überwuchert ist. Ein anderer GI, der kurzfristig von Giessen nach Guantanamo beordert wurde, erzählt mir von seiner Tochter, die in Deutschland zur Schule geht. Am Telefon müsse er ihr ständig versprechen, dass in Guantanamo nicht gefoltert werde. Aber selbst die Lehrerin behandele sie ungerecht, weil ihr Vater in Guantanamo arbeite.
Groteskes Verfahren
Ich werde ein zweites Mal in das Camp Delta gelassen. Diesmal, um der Anhörung eines Taliban beizuwohnen. Ein Pentagon-Beamter informiert mich über die wichtigsten Anklagepunkte: Der Gefangene war Handelsminister der Taliban und soll an der Ermordung eines ecuadorianischen Rotkreuzmitarbeiters beteiligt gewesen sein. Ich bekomme einen Tisch im Anhörungszimmer zugewiesen und muss unterschreiben, dass ich mich an die Regeln halte. Keine Beine kreuzen, weil dies im islamischen Kulturkreis als Affront angesehen wird.
"Please all rise." Alle aufstehen. Drei Offiziere, die die Anhörung leiten, betreten den Raum, in dem bereits der afghanische Häftling mit seinem Übersetzer sitzt. Zudem gibt es drei weitere Militärs, die für Formalien zuständig sind. "Sie können unter Eid aussagen, wenn Sie das bevorzugen. Wir haben einen islamischen Eid vorbereitet." "Sprechen Sie mir nach: Im Namen Allahs ..." Das Pseudo-Gerichtsverfahren entscheidet darüber, ob der Gefangene inhaftiert bleibt oder nicht. Einen Anwalt gibt es nicht. Der größte Teil der Anschuldigungen bleibt geheim. Und welche Kriterien die Offiziere in dem Verfahren haben, bleibt unklar.
"Warum sind Sie dann hier?"
Der bärtige Häftling in weißer und cremefarbener Lagerkleidung spricht mit höflicher Zurückhaltung: "Ich bin schon alt und schwach, ich bin seit drei Jahren hier, das ist doch genug dafür, dass ich Handelsminister der Taliban war." "Im Jahr 2003 haben Mullah Omar und Osama bin Laden entschieden, ihre Kräfte zusammenzuschließen", wird ihm erwidert. "Das hat nichts mit mir zu tun, Sir. Ich war schon unter Arrest. Sie haben mir diese Information gegeben", sagt er. "Warum sind sie dann hier?", fragt ihn ein Offizier. "Die Amerikaner haben blind einen Stein geworfen und ich wurde getroffen", antwortet er. Dann lächelt der Taliban die ratlos wirkenden Offiziere wieder freundlich an.
Kurz vor meiner Abreise mache ich noch Außenaufnahmen von Camp Delta. Mehrfach fahren Krankenwagen in das Camp. Als ich zurück in Washington bin meldet das Pentagon neue Fakten zu Guantanamo: Die Zahl der Hungerstreikenden Gefangenen ist auf 84 gestiegen.