„Ein demokratischer Embryo“
3. Mai 2012Theary C. Seng wurde vermutlich im Januar 1971 in Phnom Penh geboren. Zur Zeit des Pol Pot Regimes lebte sie an der Grenze zu Vietnam, wo die Khmer Rouge besonders wüteten. Sie verbrachte fünf Monate im Gefängnis. Beide Eltern wurden von den Khmer umgebracht. Mit den überlebenden Familienmitgliedern emigrierte sie 1980 in die USA. Theary C. Seng ist Gründerindes “Cambodian Centerfor Justice & Reconciliation“ und Gründungspräsidentin von “CIVICUS- Center for Cambodian Civic Education.
DW: Kambodscha ist ein unterdrücktes Land – aber es ist Ihre Heimat und Sie haben entschieden, hier zu leben und zu arbeiten – Ihrer Erinnerungen zum Trotz. Wie ist der gegenwärtige Status Quo des Landes – ist Kambodscha eine Demokratie mit aufgeklärten Menschen und einer freien Presse?
TS: Ja, Kambodscha ist eine Demokratie, aber eine sehr unreife dazu. Wir unternehmen nur kindlich kleine Schritte, um die Mechanismen und Prinzipien der Demokratie zu verstehen: in Freiheit zu leben, frei als Mann und Frau reden zu dürfen, verschiedene Vorstellungen zu respektieren und eine qualitätsvolle Bildung und Erziehung für alle sicherzustellen, ob arm, ob reich, ob Junge oder Mädchen.
Vielleicht ist es Absicht, dass die politischen Führer sehr zögerlich darin sind, Ideale und Prinzipien der Demokratie anzuwenden. Das ist nicht überraschend, aber extrem frustrierend und zerstörerisch für uns – das normale Volk.
Die Bevölkerung braucht die Demokratie wie die frische Luft zum Atmen. Wie auch immer, ihre Hoffnungen erfüllen sich durch die Gewalt und Macht der Führenden nicht. Hinzu kommt der Mangel an Möglichkeiten, Bildung und Beschäftigung zu erhalten – wesentliche Elemente, um das Wachstum der Demokratie zu fördern.
Um es so zu sagen: Kambodscha ist ein demokratischer Embryo, der ums Überleben kämpft, um irgendwann selbstbestimmt leben zu können.
DW: Sie sagen: Kambodscha hat eine Gesellschaft von “Untertanen” und “Überlebenden”, ohne “Repräsentanten” oder einer “Bürgerschaft”: „Wir waren Untertanen des Kolonialismus und der Monarchie; Die Khmer Rouge machten uns zu Überlebenden.“ Ihre Organisation will das ändern und Ihr Volk ermutigen. Deshalb ist es aus Ihrer Sicht notwendig mit der Demokratieerziehung bei den Jüngsten anzufangen?
TS: Wie viele arme Länder des Südens verzeichnet auch Kambodscha einen Jugendboom. 70 Prozent unseres 14 Millionen Volkes sind unter 30 Jahren. Sie sind also nach dem Khmer Rouge Genozid geboren. Allerdings wäre es ein Fehler zu glauben, sie seien nicht betroffen. Viele Überlebende leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen und die Traumata werden an die nächste Generation weitergereicht, auch wenn sie selbst keine direkten Erfahrungen mehr mit Unterdrückung haben. Wir sehen die Realität, den starken Alkoholismus, die häusliche und ganz alltägliche Gewalt, die ungestraft bleiben. Diese „schlechten Gewohnheiten“ werden von den jungen Leuten unbewusst verinnerlicht.
Bis heute fokussiert sich die demokratische Erziehung auf die „Rechte“ und selten auf die Verantwortung. Für mich definiert sich ein Bürger als eine Person, die ihre Rechte kennt und sie verantwortlich wahrnimmt. Verantwortung ist nur die eine Seite der gleichen Münze, sie kann nicht von den individuellen Rechten getrennt werden.
DW: Sie und Ihre Familie sind Opfer der Khmer Rouge. Nun nach 30 Jahren hat das Tribunal die ersten Urteile gesprochen und damit weltweite Aufmerksamkeit erregt. Aber Sie sind mit den Ergebnissen nicht zufrieden?
TS: Das Rote-Khmer-Tribunal hat das Potential, in einem Maße Gerechtigkeit zu üben, das für uns als die Opfer akzeptabel ist. Wie auch immer, das Tribunal hat diese Möglichkeit nicht genutzt und hat die Strafverfolgung in ein politisches Betrugstheater umfunktioniert und die Geschichte umgeschrieben, um den mächtigen Interessen Einzelner, der Regierungspartei und bestimmten regionalen und internationalen Kräften zu dienen.
Das KRT instrumentalisiert die Gerechtigkeit, um Ungerechtigkeit zu installieren. Ich kann einen solchen Anschlag auf meine eigene Leidensgeschichte, die Erinnerungen meiner Eltern und die von 1.700 000 anderen Opfern nicht akzeptieren.
DW: Im Sinne einer demokratischen Erziehung halten Sie es für besonders wichtig, dass Menschen ihre Geschichte nicht vergessen und sich der Ungerechtigkeiten erinnern, die im Namen der Khmer Rouge begangen worden sind?
TS: Ja, Erinnern und Demokratieerziehung sind ausgesprochen wichtig, um eine Gesellschaft wieder aufzubauen, die in jeder Hinsicht und in hohem Maße erschüttert ist.
Was bedeutet denn Erziehung, wenn nicht das Wissen, Wege zu neuem Verständnis zu eröffnen, die zu Nachdenklichkeit und Weisheit führen?
Wir wollen eine ehrenhafte Erinnerung etablieren und mit dem Hass und den schlechten Gedanken aufhören. Wir müssen uns erinnern, aber in einem freien Geist, hoffnungsvoll und vergebend mit dem Willen, die Dunkelheit durch etwas Positives zu ersetzen. All dies wird durch bürgerschaftliches Engagement und Erziehung möglich - zwei wesentliche Notwendigkeiten an einem Ort wie Kambodscha.