"Ein Fest der Poesie"
2. Dezember 2012Was interessiert die internationale Lyrikszene an einer Stadt in der ukrainischen Provinz, an der Grenze zu Rumänien, mit 240.000 Einwohnern? Nun, sie ist ein architektonisches Juwel und polyphon. Sie hat sechs Namen, je einen in deutscher, ukrainischer, russischer, polnischer, rumänischer und jiddischer Sprache - Beleg dafür, dass hier Menschen vieler Ethnien meist friedlich miteinander lebten. Ihre kulturelle Prägung erfuhr die Stadt vor allem zwischen 1775 und 1918, als Czernowitz zum Habsburger Vielvölkerstaat gehörte. Damals stellten schwäbische Bauern und deutschsprachige Juden die Mehrheit der Bevölkerung.
Die Juden genossen in der Bukowina, wie die Gegend um Czernowitz heißt, Freiheiten, die man anderswo nicht kannte. Kaiser Franz Joseph stellte sie mit allen anderen Bevölkerungsgruppen rechtlich gleich. Sie dankten es ihm mit großer Loyalität und brachten die Stadt zur wirtschaftlichen und kulturellen Blüte. Drei Czernowitzer Dichter ragen besonders heraus: Rose Ausländer, Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger.
Mit dem Festival Czernowitz Meridian will die Stadt an diese literarische Tradition anknüpfen. Der Name geht auf Paul Celans zurück. Er meinte nicht den geografischen Meridian, sondern einen Ort, an dem Personen und Literatur miteinander verknüpft sind – über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg. So schrieb Celan über seine Heimat: "Das war eine Gegend, in der Menschen und Bücher lebten."
Deutsche Welle: Wie kamen Sie auf die Idee, das Literaturfestival Czernowitz Meridian zu initiieren?
Igor Pomerantsev: Für mich bedeutet diese Stadt Heimat, Kindheit, Wurzeln. Meine Großmutter, mein Vater, mein Bruder sind hier begraben. Das ist ein ganz konkretes Band.
Mein Neffe kam zu mir. Er war Geschäftsmann, dessen Unternehmen in der Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten geriet. Er fragte mich: Onkel, was soll ich machen? Ich sagte: Czernowitz ist ein Markenzeichen, die brauchst Du nur zu vermarkten. Czernowitz ist die Stadt der Bücher, die Marke steht für eine ganze Kultur. Das war der Anfang. Mein Neffe organisiert das Festival wie ein Manager, nicht emotional, sondern pragmatisch, und, wenn Sie so wollen, im besten Sinne deutsch. Nicht nur wegen der deutschen kulturellen Hintergrunds der Dichter von Czernowitz, sondern weil es gut organisiert ist.
Was ist das Ziel des Festivals, Ihre Vision?
Ich selbst bin Poet. Ich habe in Kiew, in London, in Prag und in Deutschland gelebt. Ich lebe in der Sprache. Czernowitz ist Kultur: Jiddisch, Ukrainisch, Russisch, Deutsch – ein polyphoner Basar, der sich in meinen Ohren festgesetzt hat. Ich möchte, dass dies wiederhergestellt wird.
Die Dichterin Rose Ausländer schrieb: Als die Stadt unterging, überlebte sie dank eines Strohhalms, durch den die Menschen atmeten. Das war die Kultur. Doch die Jahre nach dem Krieg waren in Czernowitz barbarische Jahre. Wir lebten hier und spürten den Boden nicht. Barbarische, sowjetische Jahre. Man verbarg die Kultur vor uns, ganz absichtlich.
Jetzt legen wir diesen Palimpsest [Bezeichnung für ein altes Manuskript, von dem die Schrft abgekratzt wurde, um es dann neu zu beschreiben, Anm. d. Verf.] frei. Das ist eine Restaurierung wie bei einer alten Ikone. Dabei dürfen wir uns aber nicht vom Mythos Czernowitz vor dem Krieg verführen lassen. Das ist nicht Dornröschen, keine Prinzessin, die man küsst und die dann erwacht. Wir können nicht die Atmosphäre von damals wieder herstellen. Aber wir können die Sprachen, die Kultur und die Geschichte wiederaufleben lassen. Das ist die Aufgabe.
Was bedeutet Czernowitz für die Menschen heute?
Meine Familie ist zugezogen. Mein Vater war Kriegsjournalist. Meine Jugend sind die 1950er und 1960er Jahre. Für die künstlerischen Menschen war und ist die Stadt fatal – im konstruktiven Sinne schicksalhaft, prägend. Die Stadt war wie ein Dissident: eine stolze Stadt des kaiserlich-königlichen Habsburgerreiches war plötzlich sowjetisch. Mir schien die Stadt immer wie ein Dissident des Subjektivismus und des Individualismus. Das geht über ins Blut.
Welchen Stellenwert werden Czernowitz und das Literaturfestival in zehn Jahren haben?
Ich bin Optimist. Ich liebe den Ausdruck von James Joyce vom work in progress als Bezeichnung für ein noch unvollendetes Werk. So ist das Leben. Meinem Neffen sage ich: Festival kommt von dem Wort Fest. Die Poesie soll gefeiert werden. Das Festival soll ein Quell der Poesie werden, keine Begegnung von Akademikern, sondern ein lebendiger Ort. Czernowitz ist die Stadt der Bücher, der Poesie, seit mehr als 200 Jahren werden hier Gedichte geschrieben, seit hier das erste deutschsprachige Gymnasium eröffnete. Wenn wir dieser Tradition treu bleiben, wird Czernowitz die Literatur-Hauptstadt der Ukraine. Wenn es uns nicht gelingt, dann wird sich die Stadt verändern, dann sinkt das Niveau des Festivals ab. Dann kommen nicht die mehr die Poeten, sondern die Akademiker, die Archäologen der Kultur und der Literatur.