Ein Fußballgott in Bedrängnis
24. Februar 2014Es musste einfach mal gesagt werden. Denn was die Leute da redeten, es stimmte einfach nicht. Von wegen, Neymar da Silva Santos wäre der neue Pelé. Der junge Fußballer, Shooting-Star des brasilianischen Fußballs und mittlerweile für - dem Vernehmen nach - 95 Millionen Euro zum FC Barcelona gewechselt, habe zwar Weltklasse, das ja. Aber dass er der neue Pelé sei, das wollte der alte Pelé, Teilnehmer der Weltmeisterschaften von 1958, 1962, 1966 und 1970, dann doch nicht hinnehmen. Und so lud er im Februar 2013 Reporter der brasilianischen Zeitung O Estado de S. Paulo zu sich nach Hause ein, um ihnen mitzuteilen, was er von dem Vergleich hielt: nämlich gar nichts. Immer wenn Neymar in der Nationalmannschaft spiele, verwandle er sich in einen "ganz gewöhnlichen Spieler". Außerdem kümmere er sich mehr darum, in die Medien zu kommen, als für die Mannschaft zu spielen. "Seine Hauptsorge besteht darin, seinen Stil und seinen Haarschnitt zu verändern."
Und überhaupt: Es sei schwierig, mit Neymar offensiv nach vorne zu spielen. "Er muss den Ball öfters abgeben, mehr für das Team spielen." Den Mannschaftsgeist, den er, Pelé, im Sinne habe, habe es übrigens schon einmal gegeben: nämlich in der Nationalmannschaft des Jahres 1970. Die, das brauchte er nicht eigens zu sagen, gewann in jenem Jahr die Weltmeisterschaft in Mexiko. Nicht zuletzt dank Pelé selbst, der sich mit insgesamt vier Treffern als einer der erfolgreichsten Torschützen des Turniers erwies.
"Der nächste Pelé"
In Sachen Fußball ist der mittlerweile 72 Jahre alte Pelé bis heute eine Autorität. Seinen Ruhm begründete er außer durch die vier WM-Teilnahmen durch die sagenhaften 1281 Tore, die er in 1363 Spielen erzielte. Mit 77 Treffern ist er zudem bis heute ungeschlagener Rekordschütze der brasilianischen Nationalmannschaft. Die FIFA bezeichnet ihn als "Weltfußballer des 20. Jahrhunderts", das IOC feiert ihn als "Sportler des Jahrhunderts".
Doch trotz aller Ehrungen musste Pelé erleben, dass die Zeiten, in denen er als einzigartig galt, vorüber sind. Knapp zwei Wochen nach dem Interview mit dem Estado de S. Paulo hob das US-amerikanische Nachrichtenmagazin TIME in einigen seiner Regionalausgaben den gescholtenen Neymar auf die Titelseite. Und es zögert auch nicht, ihm dort den gebührenden Rang einzuräumen "The Next Pelé" stand dort zu lesen - "Der nächste Pelé". Und der alte Pelé fügte sich. In den folgenden Monaten sparte er nicht mit anerkennenden Worten über den neuen Star am Fußballhimmel.
Fußballstar und Geschäftsmann
Doch nicht nur der Mythos Pelé verlor durch den Makel der Vergleichbarkeit an Glanz. Auch sonst musste der Fußballer zuletzt einige kritische Beobachtungen hinnehmen. In deren Zentrum steht nicht der Jahrhundertsportler Pelé, sondern der Geschäftsmann Edson Arantes do Nascimento, wie Pelé mit bürgerlichem Namen heißt. In der öffentlichen Wahrnehmung haben sich beide Aspekte, die des Fußballkünstlers auf der einen Seite und die des Unternehmers und Selbstdarstellers auf der anderen, stark aufeinander zu bewegt.
Viele Brasilianer verehrten Pelé sehr, erklärt Sérgio Settani Giglio, Betreiber der Internetseite Website Ludiopedio. "Es gibt aber auch solche, die die öffentliche Figur ablehnen, zu der er sich gemacht hat. Es gibt zwei Seiten: die Privatperson Edison Arantes do Nascimento, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, und Pelé, den Fußballstar. Edson zehrt immer noch von Pelé." Ähnlich sieht es in einem Kommentar auch die Tageszeitung Folha de São Paulo. "Edson", schreibt das Blatt, "lebt heute vom Image Pelés, von seinen Toren und Dribblern, die rund um die Uhr im Internet zu sehen sind".
Tatsächlich profitiert der Geschäftsmann Edson von den Möglichkeiten, die ihm der Mythos Pelé eröffnet. "Er wirbt für ein Anti-Schuppen-Shampoo, einen Supermarkt, einen Kaffee, eine Zahnbürste, eine Bank, einen Rasierapparat, eine Automarke, eine Armbanduhr, eine Telefongesellschaft, für Fastfood-Sandwiches, Sportartikel, den Bauernverband und sogar die Regierung", zählte die Zeitung Folha de S. Paulo die Engagements des Fußballstars auf.
"Vergessen wir die Demonstrationen"
Pelé ist so beschäftigt, argwöhnen seine Kritiker, dass er die Realitäten des Landes darüber vergessen hat. Viele Brasilianer nahmen es ihm übel, dass er im Sommer 2013 - das Land erlebte gerade eine nie dagewesene Welle von Sozialprotesten - seine Landsleute dazu aufforderte, zu Hause zu bleiben und sich auf die WM vorzubereiten. "Vergessen wir all die Demonstrationen und unterstützen wir unser Team", mahnte er in einem inzwischen berühmt gewordenen Video.
Daraufhin hängten einige der Ermahnten in Pélés Geburtsstadt Três Corações im Bundesstaat Minais Gerais der dem Fußballer gewidmeten Statue ein Pappschild um: "Ich komme auch aus Três Corações, aber Pelé repräsentiert mich nicht", stand darauf zu lesen.
Er repräsentiert seine Landsleute nicht mehr, weil er den Kontakt zu ihnen verloren hat, erklärt der Soziologe Sérgio Settani Giglio: "Durch seinen Auftritt hat er gezeigt, dass er nicht sonderlich informiert ist, keinen rechten Bezug zu dem hat, was im Land passiert. Das zeugt von einer gewissen Entfremdung."
Versöhnung während der tollen Fußballtage
In Sachen Fußball hingegen hat sich Pelé seinen scharfen Blick erhalten. Wiederholt kritisierte er die deutlich hinter dem Zeitplan hinterher hinkenden WM-Vorbereitungen. Brasilien vergebe die Chance, sich der Welt angemessen zu präsentieren, warnte er. Das hat sich längst auch im Vorbereitungsteam herumgesprochen - die in Verzug geratenen Arbeiten am Stadion in Curitiba, das als Austragungsort nun auszuscheiden droht, laufen nach einem Sonderkredit und mit Hilfe zahlreicher Extraschichten auf Hochtouren weiter. Auf dass es doch noch etwas werde mit der WM, auf dass die Brasilianer sich während der tollen Fußballtage wieder versöhnen mit sich, mit ihrem Land und vor allem mit Pelé, ihrem noch amtierenden Fußballgott Nummer 1.