Ein großer Verlust
28. Oktober 2002Was seit langem als Schreckensgespenst durch die Flure des Suhrkamp-Hauses in der Frankfurter Lindenstraße geisterte, ist damit Wirklichkeit geworden: Deutschlands Flaggschiff der literarischen und wissenschaftlichen Avantgarde steht ohne seinen jahrzehntelangen Kapitän da. Und die Buchwelt hat mit dem Tod Unselds einen ihrer letzten großen unabhängigen Verleger verloren.
Zwar hat Unseld mit Günter Berg einen versierten Verlagsleiter. Doch die wichtigen Entscheidungen hat Unseld fast bis zum Schluss selbst getroffen. Suhrkamp war Unseld. Mehr als 50 Jahre lang stand er auf der Kommandobrücke, bis eine Herzattacke und gesundheitliche Komplikationen ihn im Sommer 2002 zum Rückzug zwangen. Die Buchmesse im Oktober fand ohne ihn statt, und die Gewissheit wuchs, dass er nicht mehr in seinen Verlag würde zurückkehren können.
Keine halben Sachen
"Ich kann ja nicht halbe Entscheidungen treffen. Entweder ganz oder gar nicht", antwortete Unseld einmal auf die Frage, ob er nicht allmählich einen Gang zurückschalten wolle. Kritiker warfen ihm vor, er könne keine anderen Götter neben sich dulden. Unselds patriarchalischer Führungsstil war nicht unumstritten. Doch der Erfolg des Verlags und sein weltweites Ansehen waren ein Beleg dafür, dass Unseld mit seinem verlegerischen Gespür richtig lag.
Unselds hohen Ansprüchen zu genügen, war nicht einfach, wie eine ganze Reihe designierter Nachfolger am eigenen Leib erfahren musste. Als er mit 67 das Rentenalter längst überschritten hatte, überwarf sich der Senior mit Sohn Joachim. Der Junior wollte nicht als ewiger Kronprinz auf den Thron warten.
Nachfolger als Beruf
Es folgten drei weitere Kandidaten, die es alle nicht lange neben Unseld aushielten. "Designierter Unseld-Nachfolger ist fast schon ein eigener Beruf" lästerte die "Frankfurter Rundschau". Zuletzt kam Berg. Er hatte im Juni 2002 während des Skandals um Martin Walsers angeblich antisemitischen Roman "Tod eines Kritikers" die erste Bewährungsprobe, als Unseld schwer krank im Bett lag und von der Debatte abgeschirmt wurde.
Mit Berg zusammen soll eine zu Unselds Lebzeiten gegründete Stiftung die verlegerische Linie in Deutschlands wohl bedeutendstem Literaturverlag wahren. Vorsitzende ist Unselds Witwe, die Autorin Ulla Berkewicz. Ihr zur Seite steht ein Stiftungsrat, dem Denker der ersten Reihe angehören: die Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und Adolf Muschg, der Soziologe Jürgen Habermas, der Gehirnforscher Wolf Singer und der Publizist Alexander Kluge, allesamt Suhrkamp-Autoren. Unseld hat der Stiftung seine Verlagsanteile und sein Privatvermögen übertragen. Wie sich die auf mehrere Schultern verteilte Leitung in der Praxis bewähren wird, ist ungewiss.
"Literarische Hebamme"
Hermann Hesses "Siddharta" legte 1946 den Grundstein für Unselds Liebe zur Literatur. Er begann in Ulm eine Ausbildung als Verlagskaufmann, studierte in Tübingen Germanistik, Philosophie, Nationalökonomie und Sinologie und promovierte 1951 über Hesse. Der Schriftsteller riet ihm, bei Verleger Peter Suhrkamp in Frankfurt anzuklopfen. 1952 startete Unseld seine Blitzkarriere bei Suhrkamp, der ihn sechs Jahre später zum persönlich haftenden Gesellschafter machte. 1959, nach dem Tod Suhrkamps, nahm Unseld das Ruder in die Hand. Hesse wurde später eine tragende Säule des Verlags.
Unseld sah sich als "literarische Hebamme, Analytiker, Geschäftsmann und Mäzen" in einer Person. Literarischen Moden lief er nicht hinterher, baute vielmehr Autoren wie Peter Handke, Martin Walser und Uwe Johnson, später junge Schreiber wie Durs Grünbein, Rainald Goetz oder Ralf Rothmann konsequent und geduldig auf. Ein literarischer Verlag, so sein Credo, baue nicht auf Einzelbücher und Bestseller. "Die Bestseller-Listen von heute sind die Friedhofstafeln von morgen" lautete eines seiner Lieblingszitate - wenngleich er es später relativierte. Schließlich verdankt auch Suhrkamp seinen Erfolg Bestsellerautoren wie Isabel Allende oder Sigrid Damm.
Unbedingte Loyalität zum Autor war Unselds oberstes Gebot, auch wenn der Autor nicht seine eigene (politische) Meinung teilte. So stellte er sich hinter Handke, der im Jugoslawien-Krieg für seine proserbischen Äußerungen kritisiert wurde. Als Uwe Johnson während der Arbeit an den "Jahrestagen" eine Schreibblockade hatte, unterstützte er ihn zehn Jahre lang finanziell. Auch der Entschluss, das umstrittene Walser-Buch zu drucken, entsprang dieser Tradition. Das prall gefüllte Gästebuch in Unselds Villa in der Frankfurter Klettenbergstraße zeugt von der engen Freundschaft des Verlegers zu seinen Autoren, darunter zahlreiche Literaturnobelpreisträger. (dpa)