Ein Jahrhundertprojekt ist besiegelt
29. Oktober 2004Seit einem Jahr kann ihn jeder EU-Bürger in seiner Sprache lesen: den rund 350 Seiten dicken "Vertrag über die Verfassung für Europa". Zu den wichtigsten Grundgedanken zählte eben das: Die Verfassung sollte für alle Bürger lesbar und verständlich sein - nicht nur für Juristen. Denn Bürgernähe sei wichtig, meint Außenminister Joschka Fischer. "Die europäische Verfassung - unsere europäische Verfassung - ist ein Jahrhundertprojekt. Sie muss den Bürgerinnen und Bürgern die Vorteile Europas verdeutlichen, ihnen Vertrauen in die Europäische Union geben und die Europäische Union insgesamt nach innen und außen handlungsfähiger machen", erklärt der deutsche Minister.
Kein klares Bekenntnis zum Christentum
In der Präambel zur Verfassung geht es erst einmal um die ideellen Grundlagen der Union: Gleichheit, Freiheit und Wahrung der Menschenrechte, zudem noch Demokratie und das Streben nach Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität. Ein klares Bekenntnis zum Christentum fehlt, stattdessen findet sich der vage Hinweis auf die "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas".
Mehr Bürgernähe
Die eigentliche Verfassung beginnt mit den Zielen der Europäischen Union und den Rechten ihrer Bürger: Wer beispielsweise in ein anderes EU-Land zieht, hat das Recht, dort sowohl an den Wahlen zum Europa-Parlament als auch an den Kommunalwahlen teilzunehmen. Und wenn mindestens eine Million EU-Bürger unterschreiben, können sie ein EU-Gesetz beantragen. Bürgernähe wird auch in der "Charta der Grundrechte der Union" demonstriert. Sie erinnert sehr stark an die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, geht aber in zahlreichen Punkten weiter. So findet sich hier zum Beispiel das "Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst" oder das "Recht auf eine gute Verwaltung".
Prinzip der doppelten Mehrheit
Die meisten Seiten in der Verfassung drehen sich allerdings um die Europäische Union selbst. Detailliert werden alle Politik-Bereiche der EU aufgelistet, angefangen beim Binnenmarkt über Wirtschafts- und Währungspolitik bis hin zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Und es wird genauer erklärt, wie Parlament, Rat, Kommission und die übrigen Organe der Union funktionieren. Bis zuletzt gerungen hatten die Staats- und Regierungschefs um das Abstimmungsverfahren bei Mehrheitsentscheidungen. Schließlich hat man sich auf das Prinzip der doppelten Mehrheit geeinigt, bei dem nicht nur die Zahl der Staaten, sondern auch die Bevölkerungszahl eine Rolle spielt. In der Vergangenheit hat es knappe Kampfabstimmungen allerdings noch nie gegeben.
Wer macht was in Europa?
Ebenso umstritten war die Frage, was die EU zu entscheiden hat und was die Mitgliedstaaten. Beim Wettbewerbsrecht sowie bei der Währungs- und Handelspolitik hat beispielsweise die Union die Oberhoheit. Vieles bleibt aber weiter in nationaler Hand. Vor allem die Außen- und Sicherheitspolitik: Zwar soll es bald einen europäischen Außenminister geben. Doch welche Positionen dieser Außenminister vertreten wird, das bestimmen dann doch die Staats- und Regierungschefs. Und es soll einen EU-Präsidenten geben. Der wird vom Rat für zweieinhalb Jahre gewählt und ersetzt die bisher rotierenden Ratspräsidentschaften. Wie jede Vereinssatzung hat auch die Verfassung der Europäischen Union einen Paragraphen, wie man Mitglied werden und wie man wieder austreten kann. Hier steht auch, dass der Rat der EU ein Mitglied wegen Verfassungsverstößen bestrafen darf - indem er ihm das Stimmrecht entzieht.
Und auf den letzten Seiten gibt es noch etwas fürs Herz: Ludwig van Beethovens "Ode an die Freude" wird zur offiziellen Hymne der Europäischen Union erklärt, der goldene Sternen-Kreis auf dunkelblauem Grund zur offiziellen Flagge - und der 9. Mai zum offiziellen Europa-Feiertag. Dazu gibt sich die EU das Motto: "Einig in der Vielfalt".