Ein Land spielt sich frei - Die Fußballweltmeisterschaft von 1954
23. Juni 200935.000 Menschen drängen sich im Singener Bahnhof. Seit Stunden hat die Menschenmenge geduldig auf den Girlanden geschmückten Sonderzug "Roter Blitz" gewartet, auf die frischgebackenen Weltmeister, die Helden von Bern. Die deutsche Fußballelf hat im Endspiel um die Weltmeisterschaft Ungarn mit 3:2 besiegt. Der Jubel schlägt in grenzlose Begeisterung um, als der Zug mit der Aufschrift "Fußball-Weltmeister 1954" in den Bahnhof einläuft.
Einen Tag zuvor, am 4. Juli 1954, hat die deutsche Elf ein Fußballwunder zustande gebracht. Die Ungarn gelten als beste Mannschaft der Welt. Seit vier Jahren und 31 Länderspielen sind sie ungeschlagen. Den deutschen Finalgegner haben die Ungarn in der Vorrunde mit 8:3 deutlich besiegt. Die deutsche Elf von Bundestrainer Sepp Herberger ist klarer Außenseiter. Radioreporter Herbert Zimmermann bezeichnet bereits den Finaleinzug der Deutschen als ein "echtes Fußballwunder". Da steht es noch 0:0. Nach acht Minuten führt der Favorit mit 2:0.
Das Wunder von Bern
Für die deutsche Mannschaft scheint sich ein Debakel anzubahnen. Doch dann kommt die Wende, zur Halbzeit steht es bereits 2:2 unentschieden. Die Partie ist ausgeglichen, beide Mannschaften haben die Möglichkeit in Führung zu gehen – bis zur 84. Minute. Unvergesslich ist die Radio-Reportage des Reporters Herbert Zimmermann: "Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tor, Tor, Tor, Tor! 3:2 für Deutschland".
Deutschland wird Fußballweltmeister 1954 und das Land verfällt in Euphorie. "Sie kämpften, wie nur Männer kämpfen können", heißt es in der Bild-Zeitung am Tag nach dem Finale. "Deutschlands Geheimwaffe: Fritz Walter Ecken", lobt das Fußball-Magazin "Der Kicker". Bei der Siegerehrung wird die erste Strophe der Nationalhymne gesungen: "Deutschland, Deutschland über alles! Von der Maas bis an die Memel". Heute ist nur noch die dritte Strophe des Deutschlandliedes üblich. Im Berner Wankdorf-Stadion hat 1954 keine patriotische, sondern eine "chauvinistische Stimmung" geherrscht, sagt Uwe Storjohann. Der Mitarbeiter des Norddeutschen Rundfunks ist damals als Zuschauer dabei: "Dieses Maß an Patriotismus habe ich nie wieder erlebt. Es war so, als hätten wir Stalingrad nachträglich gewonnen."
Sieg mit bitterem Beigeschmack
Der Schatten der Vergangenheit überlagert auch die DFB-Siegesfeier in München. Der Präsident des deutschen Fußballbundes, Peco Bauwens, hält eine Rede, die im nationalsozialistischen Sprachgebrauch verhaftet ist. Im Münchner Löwenbraukeller sagt das ehemalige Präsidiumsmitglied des nationalsozialistischen Reichsbund für Leibesübungen, dass der germanische Kriegsgott Wotan den 11 "wackeren Knaben" beigestanden habe. Der Bayerische Rundfunk beendet daraufhin seine Livesendung und Bundespräsident Theodor Heuß stellt sich öffentlich gegen Bauwens.
Der 3:2-Sieg führt in Deutschland zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl, das wichtiger als Währungsreform und Grundgesetz ist. Neun Jahre nach Kriegsende läuft das so genannte deutsche Wirtschaftswunder längst auf Hochtouren. Doch im Finale von Bern verdichtet sich die jahrelange Aufbauleistung in 90 Minuten. Das Spiel sei eine Art Befreiung der Deutschen von all dem, was auf ihnen lastete, gewesen, so der mittlerweile verstorbene Historiker Joachim C. Fest. "Der 4. Juli war so etwas wie ein Gründungsdatum der Bundesrepublik Deutschland."
Autor: Michael Marek
Redaktion: Ramon Garcia-Ziemsen