Ein moderner Andrea Pirlo
1. Juli 2016Es war von Beginn an eine fast unlösbare Aufgabe, vor die Joachim Löw seinen Mittelfeldstar vor vier Jahren stellte. Bei der EM 2012 in Polen und der Ukraine spielte Deutschland im Halbfinale gegen Italien. Toni Kroos sollte Andrea Pirlo stoppen, seine genialen Pässe verhindern und seinen Bewegungsradius einschränken. Bis zur 20. Minute ging alles gut, doch dann spielte Pirlo einen seiner überraschenden und präzisen Pässe und leitete so die Führung der Italiener ein. Am Ende verlor Deutschland 1:2 und musste die Heimreise antreten. Mal wieder konnte die DFB-Elf nicht gegen eine italienische Auswahl gewinnen, von einem Trauma ist sogar die Rede. Kroos sieht das anders: "Warum sollte ich ein Italien-Trauma haben? Ich habe doch erst einmal bei einem Turnier gegen Italien gespielt."
Es fehlen die genialen Momente
Seit der Niederlage in Warschau sind vier Jahre vergangen, in denen sich Kroos weiterentwickelt hat. Vom FC Bayern München wechselte er zu Real Madrid. Mit den "Königlichen" gewann er vor wenigen Wochen die Champions League. Es war bereits sein zweiter Titel in diesem Wettbewerb, 2013 schaffte Kroos das gleiche Kunststück mit dem deutschen Rekordmeister. Genauso viele Champions-League-Siege hat übrigens auch Andrea Pirlo gefeiert. Der Italiener war über Jahre das Maß der Dinge, wenn es um Passgenauigkeit und Spielsteuerung ging.
"Er ist immer ruhig am Ball, nie nervös oder angespannt", berichtet Francesco Archetti. Der Journalist der "Gazzetta dello Sport" hat Pirlo viele Jahre beobachtet und ist nach wie vor beeindruckt von seinem Können. Der Ex-Führungsspieler der "Squadra Azzurra", verdient, inzwischen 37 Jahre alt, sein Geld in den USA, in der Mayor Soccer League beim New York City FC. "Pirlo passt den Ball präzise über den ganzen Platz, egal ob aus der Bewegung oder einfach aus dem Stand", schwärmt Archetti. Beim Namen Toni Kroos gerät der italienische Journalist ins Grübeln. Er sei sehr gut im Kurzpassspiel, aber ihm fehlten noch die überraschenden, die genialen Momente, findet Archetti.
"Tonis Weg spricht für sich"
Doch auch ohne diese "genialen Momente" ist Kroos ohne Frage das Herz der deutschen Mannschaft. Bei seinen vier EM-Auftritten in Frankreich brachte er insgesamt 92 Prozent seiner Pässe an den Mann. Der 26-Jährige spielt die meisten Bälle im Team des Weltmeisters. "Tonis Weg spricht für sich. Er hat sein Spiel auf seine Mannschaften übertragen, im Verein bei Real Madrid und in der Nationalelf", lobt Jerome Boateng seinen Mitspieler. "Er bestimmt das Tempo, und er spielt hervorragende Pässe." Kroos hat sich zum Regisseur entwickelt. Er dirigiert das deutsche Spiel mit einer Ruhe und Gelassenheit, die beeindruckt. An fast allen gefährlichen Angriffen ist der Mittelfeldakteur beteiligt. "Er ist für die Symmetrie verantwortlich, hat ein großes Positionsgefühl", sagt Bundestrainer Löw über seinen Dirigenten.
Mit Kroos zum EM-Titel?
Kroos ist kein zweiter Pirlo, auch wenn Trainer Carlo Ancelotti ihn 2014 zu Real Madrid lotste, weil er genau so einen Spielertypen wie den italienischen Ex-Star suchte. Unter Ancelotti gewann Pirlo 2007 die Champions League. Mit Kroos wollte der italienische Trainer dies auch mit Real schaffen. Doch er musste den Verein bereits nach einem Jahr wieder verlassen. Kroos blieb und setzte sich im Star-Ensemble des spanischen Rekordmeisters durch. Genauso wie in der Nationalmannschaft gibt er auch bei Real den Takt vor.
Francheso Archetti will keine Prognose abgeben, ob es für Deutschland mit Regisseur Toni Kroos nach dem Weltmeistertitel auch für einen Viertelfinalsieg gegen Italien und später dann einen EM-Triumph reichen wird. Für Kroos hat er dann doch noch ein Lob auf Lager. "Er läuft mehr als Pirlo", sagt der italienische Journalist. Deshalb sei der Deutsche so etwas wie eine moderne Ausgabe des italienischen Passgebers.