Neuer Angstgegner für die Bayern
29. September 2016Es erinnert an eine riesige Welle. Und sie schwappt immer wieder heran. Der Dauergesang der Atletico-Ultras wird jäh unterbrochen - und plötzlich braust ein Schwall der Begeisterung durch das ganze Stadion. Frauen mit Kippen zwischen den Lippen reißt es von den Sitzen. Familienväter und kleine Söhne wirbeln ihre Schals durch die Luft. Ausgelöst nicht etwa durch ein Tor, sondern durch eine Grätsche, eine Balleroberung oder einen strammen Schuss. Ein ganzes Stadion schäumt. "Atleti, Atleti", schallt es durchs Estadio Vicente Calderón.
Es ist zweifelsohne nicht das schönste Stadion weit und breit, eher heruntergekommen und von skurriler Natur – mit der Stadtautobahn, die direkt unter der Haupttribüne hindurch führt. Doch die Atmosphäre hier im Süden von Madrid sucht in ganz Spanien, wenn nicht sogar in Europa, ihresgleichen.
Bayerns Leistungsträger kommen nicht ins Spiel
Das erste Mal bekommen die Bayern dies nach 18 Minuten zu spüren, als Yannick Carrasco einen ersten Warnschuss auf Manuel Neuers Tor abgibt. Die Münchner, die das Spiel bis dahin im Griff haben, verlieren die Kontrolle. Und so nimmt der warme Herbstabend in Madrid einen unheilvollen Verlauf für die Gäste, eine ungeordnete Bayern-Defensive schenkt Carrasco den 1:0-Siegtreffer (35.) und Antoine Griezmann später fast sogar noch ein Elfmeter-Tor (84.). "Du bekommst Gänsehaut, wenn du da draußen bist. Als Zuschauer und genauso als Spieler", beschreibt Torschütze Carrasco nach dem Spiel den Nervenkitzel, im Calderón aufzulaufen.
Der Außenstürmer aus Belgien wird zum Hauptdarsteller an diesem Abend, weil die Bayern ihm erschreckend wenig Aufmerksamkeit widmen und weil die von Trainer Carlo Ancelotti auserkorenen Leistungsträger nicht überzeugen. Ancelotti entschied sich für Erfahrung statt Risiko, bot die älteste Bayern-Startelf seit elf Jahren auf. Statt des formstarken Joshua Kimmich spielte etwa Thiago, Xabi Alonso und Arturo Vidal liefen im Zentrum auf. Alonso brüllte schon früh reichlich Anweisungen über den Platz, fand aber kaum Gehör. Philipp Lahm ließ sich mehrfach von Atleticos Filipe Luis überrumpeln und hinterließ Fragezeichen, wann man zuletzt eine derart schwache Leistung des Bayern-Kapitäns gesehen hat. Vidal fiel vor allem durch Abspielfehler und Fouls auf, diesmal sogar im eigenen Strafraum.
Keine Revanche gegen Atletico
"Das ist ein Rückschlag für uns", fasste Manuel Neuer die Stimmung nach dem Spiel zusammen. "Wir hatten zu viele Spieler, die nicht ihr normales Niveau erreicht haben, mich eingeschlossen", gab auch Lahm später zu. So sehr sie sich auch wehrten, die Bayern strahlten bis auf wenige Momente kaum Torgefahr aus, obwohl sie wieder auf gewohnte 63 Prozent Ballbesitz kamen. Stattdessen leisteten sie sich ungewohnt viele Unkonzentriertheiten. Drei Gelbe Karten in der ersten Hälfte - kein Zeichen von gesunder Härte, sondern fehlender Handlungsschnelligkeit. Die Münchner fanden nie zurück ins Spiel und hatten sogar Glück, dass sie nicht höher verloren.
Und das "zum zweiten Mal in wenigen Monaten", wie Lahm feststellte. "Die Enttäuschung ist groß", fügte er noch hinzu, und vielleicht ist das die bitterste Erkenntnis. Das Spiel erinnerte allzu sehr an die schmerzliche 0:1-Auswärtsniederlage im April beim K.o. im Champions-League-Halbfinale der vergangenen Saison. Die Bayern erneut mit denselben Waffen geschlagen: einer starken Defensive und schnellen Kontern, einem verrückten Einpeitscher an der Seitenlinie namens Diego Simeone und dank des leidenschaftlichen Publikums. Die kleine Revanche - von Rache kann in der Gruppenphase noch gar keine Rede sein - fiel ins Wasser.
"Wollen den Fehler wieder gut machen"
Der neue Bayern-Coach trug die Pleite im ersten echten Härtetest unter seiner Führung mit Fassung. Stoisch, wie angewurzelt verfolgte Ancelotti das Spielgeschehen aus seiner Coaching-Zone heraus. Ancelotti malträtierte das Kaugummi, doch seine Spieler verschonte er weitgehend. Seine Analyse fiel eher allgemein aus: "Zu langsam, nicht bissig und entschlossen genug." Es ist der erste Dämpfer in der bisher so erfolgreichen wie harmonischen Kennenlern-Phase mit lockeren Siegen im DFB-Pokal, in der Bundesliga und Champions League (5:0 gegen Rostow). In Madrid wurde zum ersten Mal deutlich, dass die Bayern auch unter Ancelotti verwundbar sind.
"Wir wollen den Fehler, den wir hier gemacht haben, so schnell wie möglich ausbügeln", sagte Thomas Müller und meinte das Rückspiel in München. "Zu Hause haben wir die Chance, gegen sie zu gewinnen", befand Neuer. Vielleicht kitzelt die neue Rivalität mit Atletico wieder mehr aus den Bayern heraus. Vor eigener Kulisse können sie den kleinen Ausrutscher wiedergutmachen und die Vorrunden-Gruppe noch gewinnen. Fraglich ist nur, ob Atletico sich von der Stimmung in München beeindrucken lässt. Dazu müssen die Bayern schon wieder ihr Top-Niveau erreichen.