Ein Rezept für die Integration von Einwanderern
28. April 2006Die Integration von Einwanderern ist in den vergangenen Jahren in vielen Industrieländern zu einem Problem geworden. Vor den Küsten Spaniens und Italiens fischt die Küstenpolizei immer wieder Flüchtlinge aus der See, die mit ihren Nussschalen Kurs auf Europa halten. In Paris machten vorigen Herbst Jugendliche aus Einwandererfamilien ihrem Unmut Luft, indem sie nächtelang brandschatzend durch die Stadt zogen. Und in Berlin-Neukölln warnte der Direktor der Rütli-Schule, wo für die Mehrzahl der Schüler Deutsch eine Fremdsprache ist, er werde der Gewalt nicht mehr Herr.
Problemdiagnose
Die Suche nach den Ursprüngen der Probleme hat längst begonnen. So erklärte der französische Rechnungshof schon vor den Krawall-Nächten im vergangenen Herbst: "Die Krisensituation ist keine Folge der Einwanderung an sich. Sie ist das Ergebnis der Art und Weise, wie mit der Einwanderung umgegangen wird. Die Situation, mit der die Ordnungskräfte heute konfrontiert sind, hat sich nach und nach in den letzten Jahrzehnten herausgebildet."
Ausweg: Vielfalt in der Einheit
Aus den USA dringt nun unter dem Motto "Diversity within Unity" (DWU) - Vielfalt in der Einheit" - ein Konzept nach Europa, das einen Weg zur Integration von Einwanderern verspricht. Demnach sollte jede Gesellschaft zwei Sphären festlegen: In der einen gelten für alle Mitglieder der Gemeinschaft einige wenige aber wichtige Werte. Dort wird auch ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein gepflegt, und dort werden Zukunftsperspektiven kultiviert. Die andere Sphäre bietet Raum für Subkulturen mit eigenen Bräuchen, Sitten und Lebensgewohnheiten. Einzige Bedingung für die Subkulturen: Ihre Werte dürfen nicht im Widerspruch stehen zu den Werten der großen Gemeinschaft.
"Eine solche Vielfalt in der Einheit erlaubt es, die Grundrechte, die demokratische Lebensform und die Grundwerte vollständig zu achten ebenso wie jene Werte der Minderheiten, die damit nicht in Konflikt geraten", heißt es in einem Grundsatzpapier der DWU-Vertreter.
Etzioni und die Kommunitaristen
Verfechter und Vordenker des DWU-Modells ist der Soziologe Amitai Etzioni aus den USA. Der 77-Jährige gilt als Wortführer des Kommunitarismus (vgl. Weblink), lehrte an der Columbia Universität sowie an der George Washington Universität und war innenpolitischer Berater der US-Regierung (1979-80). Vor allem aber ist er ein ungemein produktiver Autor von 24 Büchern. 2001 zählte er nach einer Zählung akademischer Zitate zu den "top 100 Intellektuellen" in den USA.
Grenzen ziehen
Die Frage, welche Elemente in welche Kategorie gehören - in den Bereich der Einheit oder der Vielfalt - kann nach Etzionis Ansicht leicht entschieden werden. Grundrechte müssen demnach von jedem und allen respektiert werden. So könne zum Beispiel die Diskriminierung von Frauen nicht geduldet werden, ganz gleich von welchen kulturellen oder religiösen Werten eine Gruppe geprägt ist. Die Achtung vor dem Gesetz und der öffentlichen Ordnung sei von entscheidender Bedeutung. Demokratische Institutionen seien keine Option unter anderen. Auch das Lernen der Sprache des Ziellandes sei nötig für eine Integration.
Alte US-Tradition
Für die USA ist das DWU-Konzept alter Wein in neuen Schläuchen. Denn die ganz ähnliche Maxime "E Pluribus Unum" (aus vielen Eins) beschreibt seit den Tagen der Gründerväter der USA eine Grundidee der amerikanischen Gesellschaft. Sie gilt als so wichtig und maßgeblich, dass dieser lateinische Leitspruch nicht nur in das Siegel der USA aufgenommen wurde, sondern auch auf jeder Dollar-Note abgebildet ist. Damit dürfte er den meisten Amerikanern geläufig sein.
Lesen Sie weiter: Die Probleme des DWU-Modells für Europa.
Probleme für Europa?
Für Europa ist die Umsetzung des DWU-Modells eine große Herausforderung. Immerhin scheiterte die Europäische Union unlängst an der Aufgabe, einen Verfassungskatalog mit gemeinsamen Werten zu verabschieden. Wie soll es ihr da gelingen, Einwanderer aus aller Herren Länder in die Gesellschaften der einzelnen EU-Länder zu integrieren?
Ratschlag
Vor allem dreierlei geben die DWU-Verfechter als Rat:
- Schulen spielen bei der Integration von Einwanderern eine Schlüsselrolle. Dort sollte nicht nur reines Wissen vermittelt werden, sondern es sollten auch die Werte der Gesellschaft diskutiert werden. Dies gelte vor allem für Streitthemen wie zum Beispiel den Forderungen, Kruzifixe aus Klassenzimmern zu entfernen und muslimische Mädchen in Badeanzügen am Schwimmunterricht teilnehmen zu lassen.
- Dieser Dialog müsse in anderen Bereichen der Gesellschaft fortgesetzt werden. Denn die Einheit, von der Etzioni spricht, ist keine durch Regierungsorder oder Polizeimaßnahmen auferlegte Einheit, sondern eine, die aus dem Dialog innerhalb der Bürgerschaft erwächst.
- Um Subkulturen erfolgreich zu integrieren, müssten zudem die Entscheidungen der demokratischen Institutionen konsistent sein. Es sei unhaltbar, wenn Länder wie Deutschland und Österreich die Veröffentlichung von kritischen Mohammed-Karikaturen mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung verteidigten, "während gleichzeitig dieselben Länder jene ins Gefängnis stecken, die den Holocaust leugnen". Jede ethische Haltung verlange schließlich ein gewisses Maß an Konsequenz.
Chancen
Erfolgreich umgesetzt, bietet das DWU-Modell nach Einschätzung seiner Erfinder alle Aussichten auf ein friedliches Miteinander verschiedener Subkulturen in einem gemeinsamen Rechtsraum. Zwar habe kein Einwanderer einen Anspruch auf die Aufnahme, macht Etzioni unmissverständlich klar. Einwanderer bereicherten jedoch eine Gesellschaft, und zwar nicht nur ökonomisch durch ihre Arbeit, sondern auch kulturell durch ihre andersartige und womöglich die Mehrheit inspirierende Lebensweise.