Ein schwuler Imam kämpft für Toleranz
23. Juli 2016Als seine Mutter ihm sagte, sie denke nicht länger, dass er krank und weichlich, wenn nicht gar verkommen sei, da wurde Ludovic-Mohamed Zahed ganz schwindlig, erinnert er sich. Er war zu schockiert, um Stolz oder Erleichterung zu spüren. "Sie sagte: Du kannst einen Ehemann haben, wenn du willst, so wie deine Schwester. Ich akzeptiere dich."
Zahed ist ein schmächtiger Mann, der mit der Intensität und Redegewandtheit eines Menschen spricht, der es gewohnt ist, immer und immer wieder für seine Sache zu kämpfen. Lächelnd sagt er, es habe ihn zehn Jahre gekostet, seine tunesische Familie zu überzeugen, dass er keine "Schwuchtel ist, die man wie einen Hund beleidigen und schlagen darf".
Der Homosexuelle und praktizierende Muslim hat 2012 in Paris eine - wie er es nennt - "inklusive Moschee" eröffnet, die schwule, lesbische, bi- und transsexuelle, kurz: LGBT-Muslime willkommen heißt. Ein Jahr zuvor hatte er seinen Partner geheiratet, erzählt Zahed im DW-Gespräch. Seine Mutter war bei der Hochzeit dabei.
Das ist alles andere als selbstverständlich: Historisch gesehen waren muslimische Gesellschaften zwar weit toleranter gegenüber Homosexualität als der Westen, der diese sexuelle Präferenz als kriminell und "abartig" definierte. Doch mittlerweile hat sich das Blatt offensichtlich gewendet. Viele - wenn auch nicht alle - westlichen Staaten erlassen zunehmend LGBT-freundliche Gesetze, während erzkonservative und homophobe Ansichten in muslimischen Ländern üblich geworden sind.
In einigen Ländern wie dem Iran oder Saudi-Arabien ist Homosexualität ein Kapitalverbrechen, in anderen bekommen Schwule lange Haftstrafen. Das zwingt sie oft, sich zu tarnen und zu ihrem Schutz unglückliche Ehen einzugehen.
Toleranz nur Lippenbekenntnis
Es gibt Nischen der Toleranz, aber keine sicheren Orte. LGBT-Aktivisten sind in Ägypten in den vergangenen Monaten brutal verfolgt worden und richten sich oft in einem angsterfüllten und erstickenden Alltag ein. Sie kommunizieren über verschlüsselte Botschaften und Codeworte, haben einige von ihnen der DW erzählt. Eine resolute Transfrau in Beirut, die kein Blatt vor den Mund nimmt, lebt mit der Angst, dass sie eines Tages ihren Onkel auf der Straße treffen könnte, ein hochrangiges Mitglied der schiitischen Hisbollah-Miliz. "Er würde mich töten", sagt sie nüchtern.
Homophobie unter Muslimen ist nicht auf den Nahen Osten begrenzt - sie ist auch in Europa ein Problem. Ein Sprecher der Al-Nur-Moschee in Berlin, die ein fundamentalistisches Verständnis des Islam vertritt, wischte die Frage nach Homosexualität und Islam schroff vom Tisch, vertagte das Gespräch und war später zu den verabredeten Telefonterminen nicht mehr zu erreichen.
Andere sind einladender. Die Sehitlik-Moschee in Berlin gehört zur DITIB, dem größten Moschee-Dachverband in Deutschland. Ihr Sprecher Ender Cetin hat in der Vergangenheit mehrfach betont, dass sein Gotteshaus offen sei für Homosexuelle und dass er Diskriminierung in seiner Gemeinde "entschieden entgegentreten" werde. Der DW sagte er: "In unserer Moschee ist jeder willkommen!"
Diese Toleranz könnte eine Ausnahme bleiben. Die großen Moscheen "sind alles andere als einladend gegenüber Homosexuellen", sagt Jörg Steinert vom Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, LSVD, "auch diejenigen, die sich als offen und liberal präsentieren". Und oft, fügte er hinzu, sei Toleranz nur ein Lippenbekenntnis.
Zum Doppelleben gezwungen
Steinert sitzt in seinem Büro vor riesigen Plakaten, die sich küssende schwule und lesbische Paare zeigen. Er hat viele Muslime getroffen, die ein Doppelleben führen. Erzwungene Ehen seien keine Seltenheit, erzählt er, genauso wenig wie Drohungen und Misshandlungen in der Familie. Und viele Muslime, die bei ihm Unterstützung suchen, sind zerrissen zwischen ihrer Sexualität und einer Religion, die sie, wie sie glauben, als "krank" definiert.
Darum haben Steinert und seine Kollegen Ludovic-Mohamed Zahed nach Berlin eingeladen - um zu demonstrieren, dass Islam und Homosexualität tatsächlich kompatibel sind. "Ich habe auch mit meinen beiden Identitäten gerungen, mit meiner Sexualität und meiner Religion", erinnert sich Zahed. Aber dann sei ihm klar geworden, dass die Botschaft des Islam Toleranz und Frieden sei - und dass er beides sein könne: schwul und Muslim. Seitdem ist es seine Mission, andere davon zu überzeugen, die engstirnige, intolerante, die - wie er sagt - "faschistische" Interpretation des Islam zu bekämpfen.
"Ich riskiere mein Leben"
Der Koran verdammt Homosexualität nicht, betont Zahed wiederholt. Aber was ist mit der oft zitierten Geschichte der Sünden und Gräueltaten von Sodom und Gomorra? Zahed schüttelt den Kopf. Dabei gehe es um "rituelle Vergewaltigung", nicht um Schwule. "Man kann das unterschiedlich interpretieren: Das ist eine Lektion über sexualisierte Gewalt, nicht über Homosexualität."
Und diese moderne Interpretation ist etwas, "für das ich mein Leben riskiere", setzt er ruhig hinzu. Zahed lebt in Frankreich und ist an giftige Facebook-Kommentare gewöhnt, die ihm mitteilen, dass er "den Islam schändet" und "in der Hölle schmoren" werde. Er zuckt die Schultern: Ja, gibt er zu, manchmal habe er das Gefühl, dass er permanent gegen die Windmühlen aus Hass und Vorurteil kämpfe.
Dennoch ist er überzeugt, dass der Islam, "so Gott will", schließlich reformiert und modernisiert werden wird. Das Rezept dafür? Die Regierung muss liberale Moscheen und Organisationen unterstützen. Imame müssen ausgebildet werden, "Demokratie und Menschenrechte zu umarmen", statt sie als ausländischen Import zu betrachten. Noch eine Zutat: Dialog. Und vor allem Wirtschaftswachstum und politische Stabilität in der arabischen Welt.
"Sehen Sie, wenn Sie Arbeit und eine Zukunft haben, dann ist es Ihnen egal, wer mit wem ins Bett geht", sagt Ludovic-Mohamed Zahed mit einem schiefen Lächeln.