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Ein Sonntag im Supermarkt

Rodion Ebbighausen3. Januar 2013

In den 90er Jahren ist in Vietnam eine Mittelschicht entstanden. Sie konnte sich gewisse Spielräume erkämpfen. Aber nun droht die globale Wirtschaftskrise, die gerade gewonnenen Freiheiten zu verschlingen.

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Vietnamesischer Supermarkt (Foto: DW/ N. X. Thang)
Bild: N. X. Thang

"Supermarkt! Supermarkt! Supermarkt!" Mai Chi, die vierjährige Tochter von Tuyen und Lien, springt auf dem Bett der Eltern auf und ab. Sie ist voller Vorfreude über den bevorstehenden Besuch im Supermarkt. Wie viele Familien der neuen vietnamesischen Mittelschicht fahren die Nguyens am Sonntag in den Supermarkt nach Hanoi.

"Sonntag ist der einzige Tag, an dem die ganze Familie etwas unternehmen kann", sagt Tuyen. "Ich arbeite 50 Stunden in der Woche. Dazu kommen täglich drei Stunden für den Arbeitsweg. So bleibt nur wenig Zeit. Im Supermarkt können die Kinder spielen und die Eltern nebenbei ein paar Einkäufe erledigen."

Neue Mittelschicht

Die ersten Supermärkte waren so exklusiv, dass sich nur die Reichen einen Einkauf leisten konnten. Heute ist das anders, weil die Regierung 1986 ein wirtschaftliches und politisches Reformprogramm unter dem Schlagwort "Doi Moi" ("Erneuerung") angestoßen hat. Statt einer zentral gesteuerten Planwirtschaft wurde eine sozialistische Wirtschaft angestrebt, die den Bürgern größere Spielräume ließ. Mit den Freiheiten wuchs der Wohlstand. "Eine Mittelschicht hat sich erst im Zuge dieses Reformprozesses entwickelt", sagt Vietnamexperte Gerhard Will im Gespräch mit der DW.

Internet-Café in Hanoi (Foto: dpa)
Treffpunkt für die neue Mittelschicht: Internetcafé in HanoiBild: picture-alliance/dpa

Tuyen und Lien gehören der ersten Generation an, die von der Reform profitiert hat. Sie sind Ende der 70er Jahre geboren und haben in den großen Boomzeiten um die Jahrtausendwende wirtschaftliche Erfolge erzielt, von denen ihre Eltern nicht einmal träumen konnten.

Bis heute misstraut die ältere Generation dem wirtschaftlichen Aufschwung. Wenn Tuyen eine neue Küchenmaschine oder Spielzeug für die Tochter kauft, fragen seine Eltern und Großeltern skeptisch, ob das denn nötig sei und ob es nicht besser sei, das Geld für schlechte Zeiten zu sparen.

Der Wohlstand bröckelt

Eltern und Großeltern haben vielleicht nicht Unrecht. Als Folge der globalen Wirtschaftskrise von 2007 haben sich die wirtschaftlichen Aussichten für Vietnam verdüstert. Der Wirtschaftswissenschaftler Adam Fforde von der Victoria-Universität in Melbourne lässt im Interview mit der DW keinen Zweifel: "Die ökonomische Krise in Vietnam ist ernst."

Die Inflation - im Oktober 2012 lag sie bei sieben Prozent - lässt die Gehälter schmelzen. Die Immobilienpreise sind eingebrochen und so manche Familie zahlt heute Kredite ab, die höher sind als der Wert ihres Hauses. Hinzu kommen Aufwendungen für die Ausbildung der Kinder und die Gesundheit. "Die Ausgaben, die zum Teil immens sind, sind eigentlich ihr Geld nicht wert", sagt Will. Das Bildungssystem ist reformbedürftig und das Gesundheitssystem korrupt. Akademische Titel etwa werden häufiger erkauft oder an Parteitreue verliehen als erarbeitet. Für jedes Pflaster und jede Impfung müssen die Menschen tief in die Tasche greifen.

Infografik Vietnam Wirtschaftsindikatoren (DW-Grafik)
Trotz Finanzkrise: Vietnam verzeichnet seit über zehn Jahren stabile Wachstumsraten

Wenig Selbstvertrauen

Der wirtschaftliche Schlingerkurs des Landes trifft vor allem das neu entstandene Bürgertum. Die letzten Jahre drohen die Fortschritte der Vergangenheit schrittweise zurückzudrehen. Das Bürgertum zerfällt, bevor es sich richtig etablieren konnte. "Die Mittelschicht hat auf der wirtschaftlichen und politischen Ebene erhebliche Einschränkungen erfahren", urteilt Will von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Trotz der düsteren Aussichten kam es bisher zu keinen nennenswerten Protesten. "Aus der Mittelschicht wird keine Opposition erwachsen, dafür gibt es zu wenig Vertrauen in die eigene Stärke", so Will: "Man hat Angst, durch einen Umsturz oder grundlegende Veränderungen alles zu verlieren, was man sich in den letzten Jahren aufgebaut hat." Auch Tuyen setzt einzig auf die eigenen Kräfte: "Gegen die Regierung vorzugehen, nützt nichts. Auf die Regierung zu setzten, auch nichts. Man muss sich auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen."

Die Zukunft war früher schlechter

Hinzu kommt, dass die Regierung seit der Krise extrem nervös ist und schärfer gegen Regimekritiker durchgreift. "Die Verurteilung etwa von Bloggern ist auch ein Signal an die anderen", sagt Will. Im Oktober war neben anderen der populäre Blogger Dieu Cay zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Am Tag nach dem Interview schickt Tuyen noch eine Nachricht per Messenger. Er ist bei der Arbeit, die Tochter im Kindergarten. "Die Zeiten sind schwieriger als vor der großen Krise. Vielleicht hat Vietnam größere Probleme als die westlichen Länder, aber verglichen mit der Situation von vor 20 oder 30 Jahren geht es uns noch gut."