Ein Stück Deutschland in London
1. November 2014"Nein, da will ich nicht rein. Ich will nicht schon wieder was über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust sehen", sagt Lorraine Martin skeptisch. Sie wohnt außerhalb von London und ist zufällig mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im British Museum gelandet. Doch das Thema "Deutsche Geschichte" schreckt sie ab. Dabei lässt der VW-Käfer am Eingang des ehrwürdigen Museums schon vermuten, dass es hier nicht nur um den Zweiten Weltkrieg geht – obwohl auch der Volkswagen, das Auto für alle, ein Produkt aus der Nazi-Zeit ist. Doch mit dem "Beetle" werden eher Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten verbunden.
Deutschland – mehr als Blaskapellen und Lederhosen
Kurator Barrie Cook und Museumsdirektor Neil MacGregor wussten, dass es eine große Herausforderung sein würde, die Briten in eine Schau über die Geschichte Deutschlands zu locken. Vor allem die ältere Generation in Großbritannien assoziiert Deutschland nach wie vor mit dem Zweiten Weltkrieg. Andere denken an Bratwurst, volkstümliche Blaskapellen, das Münchner Oktoberfest und Herren in Lederhosen. MacGregors und Cooks Anspruch: weg von den Klischees und Stereotypen.
Die Ausstellung "Germany – Memories of a Nation" ist eine Reise durch 600 Jahre deutsche Geschichte. "Ich war überrascht, wie oft sich die Grenzen Deutschlands im Laufe der Geschichte verschoben haben", sagt Roy Hughes aus dem walisischen Städtchen Chester im Nordwesten Englands nach seinem Rundgang durch die Schau. Die Besucher können einen Blick auf die Kunstuhr im Straßburger Münster werfen. Denn Städte wie Straßburg, Basel, Königsberg oder Prag sind auch Teil der Ausstellung - sie sind aber aus heutiger Sicht nicht mehr deutsch.
Überraschender Blick auf Deutschland
Gleich zu Beginn sehen die Besucher bewegende Bilder vom Mauerfall: Bürger der DDR strömen in der Nacht des 9. November 1989 in Massen zu den Grenzübergängen in Berlin. Die Deutschen liegen sich in den Armen und stehen auf der Berliner Mauer. "Das ist toll und hat mir gut gefallen. Endlich mal andere Deutschlandbilder und nicht nur Krieg", meint Besucher Roy Hughes.
Ein historischer Exkurs in die Zeit des Heiligen Römischen Reichs bis hin zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs1871 gibt Einblicke in die deutsche Vergangenheit. Natürlich befasst sich die Ausstellung auch mit dem Zweiten Weltkrieg und den schrecklichen Verbrechen dieser Zeit. Die Besucher werden an einer Replik des Lagertors vom Konzentrationslager Buchenwald mit der Inschrift "Jedem das Seine" vorbeigeführt.
"Die Nazizeit wird aus einer anderen Perspektive beleuchtet, nämlich aus der der Zivilbevölkerung - während des Krieges und in den ersten harten Jahren danach", erklärt Waltraud Bauer. So veranschauliche ein gebrechlicher, kleiner Holzwagen den 1500 Kilometer langen Marsch einer Frau aus Ostpreußen, die mit ihrem letzten Hab und Gut vor den Russen in den Westen geflohen war. Waltraud Bauer ist am Tegernsee zuhause und auf einem Wochenendtrip in London. Sie hatte in einer deutschen Zeitung von der Ausstellung gelesen und war neugierig, wie ihre Heimat hier gezeigt wird. "Die Ausstellung ist ausgewogen", meint sie. Alles in allem könnten die Engländer sich in der Schau einen guten Überblick verschaffen – und auch Neues erfahren.
"Vor zehn Jahren hätte das nicht funktioniert"
Die Ausstellung "Memories of a nation", die am 16. Oktober eröffnet wurde, ist fast täglich ausgebucht. "Vor zehn Jahren hätten wir eine Schau über deutsche Geschichte nie in Erwägung gezogen", sagt Cook.. Aber mittlerweile seien die Briten offen dafür, mehr über Deutschland zu erfahren. "Da ist so ein Gefühl in der Luft, dass es an der Zeit ist. Ich denke da zum Beispiel an Gutenberg, Goethe oder Dürer – nicht als Personen, sondern als Deutsche. Sie haben Großes geleistet und damit die Welt beeinflusst, in der wir heute leben."
"Manchmal dachte ich: Toll eigentlich, dass dieses oder jenes bei uns erfunden wurde", meint Waltraud Bauer. Als Besucher bekäme man absolut nicht das Gefühl, Deutschland sei zu protzig oder arrogant in Szene gesetzt, "so nach dem Motto: Deutschland gebührt wieder eine führende Rolle." Barry Johnson ist mit seiner Frau extra aus dem 400 Kilometer entfernten Cornwall angereist, um die Schau zu sehen. Manchmal habe er sich sogar noch mehr Details gewünscht, sagt er, aber die Macher hätten sich sehr einfallsreich gezeigt und ihm die Augen für ganz neue Dinge geöffnet. "Als Inselbewohner leben wir etwas abgeschottet und wissen nicht allzu viel über deutsche Geschichte. Ich komme bestimmt noch mal her."
"Interesse, Überraschung, starke Emotionen"
"Die Schau scheint unsere Besucher zu fesseln", meint Kurator Barri Cook, "und genau das wollen wir erreichen." Die Ausstellung habe viele Menschen tief berührt. Bei den Rundgängen würde so manche Träne vergossen. "Ob die Schau nun Interesse, Überraschung oder starke Emotionen hervorruft - wir haben es geschafft, die Besucher zu begeistern", sagt Cook stolz. "Vielleicht liegt es daran, dass wir nicht mit Klischees arbeiten und auch nicht versuchen, ein aufpoliertes Deutschlandbild zu verkaufen. Wir wollen einfach nur deutsche Geschichte zeigen."
Aber so ganz ohne Klischee geht es dann wohl doch nicht. "Wussten Sie, dass der Gartenzwerg 1840 in Thüringen erfunden wurde und es heute rund 25 Millionen Gartenzwerge in Deutschland gibt?", fragt Kurator Barrie Cook mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht. Er ließ es sich nicht nehmen, die Besucher der Ausstellung mit einem Gartenzwerk im Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft zu verabschieden.
Die Ausstellung "Germany: Memories of a Nation" läuft noch bis zum 25. Januar im British Museum in London.