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PolitikUkraine

"Weg des Grauens" - Evakuierte aus Kiewer Vororten berichten

Alexander Sawizkij | Anastasia Shepeleva | Daria Nynko
31. März 2022

Verängstigt, schockiert, erschöpft. So beschreiben Psychologen den Zustand der Bewohner der Kiewer Vororte Hostomel, Butscha, Irpin und Makariw, die im März evakuiert wurden. Mit einigen von ihnen konnte die DW sprechen.

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Ukraine Krieg l Tiere l Menschen fliehen aus der Stadt Irpin
Menschen fliehen aus der Stadt IrpinBild: Vadim Ghirda/AP/picture alliance

Die kleinen Städte nordwestlich von Kiew waren seit den ersten Tagen des Krieges Russlands gegen die Ukraine einer der Hauptschauplätze erbitterter Kämpfe. Die Bewohner der Orte fanden sich plötzlich zwischen den Fronten des Krieges wieder. Drei Menschen, die es geschafft haben, dort herauszukommen, haben der DW ihre Geschichte erzählt.

Geschichte 1: Halyna

"Er zertrampelte meine Narzissen, schlug mein Schlafzimmerfenster ein und richtete ein Maschinengewehr darauf."

Halyna, Rentnerin. Am 11. März verließ sie Hostomel mit ihrem Mann.

"Wir standen zwei Wochen unter Beschuss und waren unter russischer Besatzung. Von einem humanitären Korridor wussten wir nichts. Am 27. Februar fiel der Strom aus. Der Mobilfunk funktionierte nur zeitweise. Das Handy luden wir an der Batterie des Autos unserer Nachbarn auf und so konnten wir Angehörigen noch sagen, dass wir leben. Aber dann brach das Netz komplett zusammen. Gas hatten wir noch bis zum 7. März, doch genau dann kam strenger Frost.

In den ersten Tagen des Krieges sahen wir russische Hubschrauber zum Flugplatz der Antonow-Werke fliegen. Das ist nicht weit von unserem Haus entfernt, direkt hinter dem Wald. Dann begann ein mehrtägiger Kampf. Raketen und Granaten flogen die ganze Zeit in beide Richtungen über uns hinweg. Hostomel ist auf Torfmooren gebaut, wir haben keine tiefen Keller, in denen wir uns vor Bomben retten könnten. Wir wussten nicht, wo der nächste Bunker ist, also legten wir uns bei Beschuss einfach in der Küche auf den Boden.

Ein paar Tage später tauchten russische Soldaten in unserer Straße auf. Sie gingen in unseren Hof und schlugen die Türen ein. Einer ging um das Haus herum, zertrampelte meine Narzissen, schlug das Fenster im Schlafzimmer ein und richtete ein Maschinengewehr darauf. Ich öffnete die Tür und fragte auf Russisch, gegen wen sie hier kämpfen würden und warum sie überhaupt gekommen seien. Einer sagte, sie würden uns von 'Nazis' und 'Ukrofaschisten' befreien. Ich fragte, was für Nazis sie im Haus einer Lehrerin für russische Sprache und Literatur in der Puschkin-Straße finden wollten. Sie sagten, sie würden nicht gegen Zivilisten kämpfen, aber sie konnten auch nicht erklären, warum sie Fenster einschlugen, und warum niemand seine auf mich gerichteten Sturmgewehre herab ließ. Daraufhin durchsuchten sie das Haus nach Waffen, wie sie sagten. Sie wollten mir mein Handy wegnehmen, aber ich hatte es versteckt und gesagt, ich hätte keins.

Am Abend tauchten Russen in anderer Uniform auf. Sie traten die Tore mit Füßen auf und feuerten sofort mit Schnellfeuergewehren auf die Höfe. Hinter ihnen fuhren Panzer, die alle Zäune entlang der gesamten Straße zerstörten. Aus unseren Fenstern sahen wir, wie sie sich in verlassenen gut eingerichteten Häusern unserer wohlhabenden Nachbarn einquartierten und alles mögliche heraustrugen.

Am nächsten Tag fuhr russisches schweres Gerät mit riesigen Geschützen im Schlepptau vorbei. Sie wurden im Wald aufgestellt. Von da an hörten wir ununterbrochen Schüsse, der Boden bebte und das alte Haus unserer Nachbarn stürzte davon einfach ein.

Am 9. März kam ein Nachbarsmädchen zu uns und sagte, dass es eine Evakuierung geben würde und wir uns beeilen müssten. Mein schwerkranker Mann fühlte sich sehr schlecht und konnte nicht gehen. Er drängte mich buchstäblich mit Gewalt auf die Straße, damit ich allein gehe. Zur Sammelstelle musste ich 30 bis 40 Minuten zu Fuß gehen. Ich war entsetzt über das, was ich erstmals nach zwei Wochen in unserer Straße sah: zerstörte Häuser, umgestürzte Zäune, von einem Wohnblock war nur ein Gerippe geblieben. Zur Sammelstelle kamen Menschen mit kleinen Kindern, Frauen, Alte. Viele hatten sich in der Eile nicht warm genug gekleidet, ein Mädchen trug unter einer Jacke nur einen Schlafanzug.

Plötzlich sagten unsere örtlichen Abgeordneten, die Russen würden keine Busse durchlassen und wir müssten alle an einen anderen Ort gehen, etwa weitere acht Kilometer, was beschwerlich war. Unterwegs wurden wir ständig von vorbeifahrenden russischen Schützenpanzern zur Seite gedrängt. Aber auch dorthin kamen keine Busse. Wir warteten stundenlang vergebens in der Kälte und es wehte ein starker Wind. Fast niemand hatte Lebensmittel oder Wasser dabei.

Es begann zu dämmern und die von den Besatzern verhängte Ausgangssperre rückte näher. Nach Hause hätte ich es nicht mehr geschafft. Man riet uns, in einen Bunker zu gehen. In ihm war es duster und dort saßen Menschen schon seit zwei Wochen. Mit uns waren es insgesamt 400 Menschen, meist alte und auch bettlägerige, sowie Frauen mit Kindern. Die Temperatur lag bei drei bis vier Grad und es war ziemlich feucht. Am Morgen konnten wir wieder herausgehen und ich kehrte nach Hause zurück. Wegen der Kälte und des Windes waren meine Lippen aufgesprungen, ich war völlig durchnässt und hatte Blasen an den Füßen.

Ukraine | Krieg | Irpin
Die Bewohner der Kiewer Vororte Hostomel, Butscha, Irpin (im Bild) und Makariw waren plötzlich zwischen den FrontenBild: Sergei Supinsky/AFP/Getty Images

Am nächsten Tag hatten wir plötzlich wieder die Netzverbindung! Am Stromgenerator unserer Nachbarn konnten wir unsere Telefone aufladen. So erfuhren wir, dass es eine weitere Evakuierung geben würde. Wir nahmen zwei kleine Rucksäcke und einen Rollstuhl, auf dem sich mein Mann abstützen konnte. Tatsächlich kamen diesmal viele Busse.

Die Fahrt nach Kiew dauerte zwei bis drei Stunden, vorbei an ausgebrannter militärischer Ausrüstung, an Leichen und Einschlagskratern. Wir mussten oft an russischen Checkpoints halten. An einem durften wir die Busse nicht verlassen, nicht einmal um unsere Notdurft zu verrichten. Als wir den Hauptbahnhof in Kiew erreichten, gingen wir sofort zum Evakuierungszug in Richtung Westukraine. Er fuhr über 12 Stunden, in den Waggons war das Licht ausgeschaltet, aus Sicherheitsgründen, um Beschuss zu vermeiden."

Geschichte 2: Iryna

"Angst vor der Nacht, wenn die Ohren jedes Geräusch einfangen, jedes Rauschen und Klopfen, jeden Schuss."

Iryna, Rentnerin. Sie verließ am 8. März ein von russischen Truppen besetztes Dorf wenige Kilometer von Makariw entfernt.

"Wir lebten an einem wunderbaren Ort, dem kleinen Dorf Hawronschtschyna, wenige Kilometer von Makariw entfernt. Am 24. Februar erfuhren wir, dass Krieg ausgebrochen sei. Am 25. Februar wurde im Dorf ein Kontrollpunkt errichtet und am 26. Februar trafen die russischen Invasoren ein. Sie besetzten das riesige Gelände eines privaten Golfclubs zwischen unserem Dorf und Makariw. Die Tage begannen und endeten mit Schüssen und Explosionen. Fast täglich, manchmal mehrmals am Tag, landeten Helikopter im Golfclub.

Solange es noch Internet gab, erhielten wir die Warnungen, uns in Schutzkeller zu begeben. Abends, nachts mussten wir unsere 96-jährige Mutter, die blind ist und nicht mehr gehen kann, in den Keller tragen.

Zwischen dem 1. und 4. März gab es ständig Luftalarm, ständig Kämpfe. In diesen Tagen brachen die Bewohner alleine auf, weil es keine Hilfe gab. Am Abend des 7. März mussten auch wir uns entscheiden. Eine Nachbarin sagte, sie hätte noch Platz im Auto für uns beide, die Großmutter müssen wir dann auf unseren Schoß nehmen. Es war eine sehr schwierige Entscheidung, auf eigene Gefahr unter Beschuss wegzufahren, aber es war auch unmöglich, diese höllische Angst weiter zu ertragen. Angst vor der Nacht, wenn die Ohren jedes Geräusch einfangen, jedes Rauschen und Klopfen, jeden Schuss. Wenn man die ganze Zeit denkt, ob eine Bombe auf einen fällt oder nicht. Unser Sohn bestand darauf, wir würden schon einen Weg finden. Hauptsache, jemand würde uns aus dem Dorf herausbringen.

Ich hatte nur dabei, was ich am Leibe trug. Einige Papiere hatte ich noch mitgenommen. Es war eine Kolonne von 50 Autos, alle mit weißen Laken behangen. Als wir am Golfclub vorbeikamen, hatten wir große Angst. Noch nie habe ich so gebetet, wie in diesem Moment.

Ukraine Kiew Alltagsszenen im Krieg
Auf der Autobahn zwischen den Städten Irpin und Butscha, 9. März 2022Bild: Pavel Nemecek/dpa/CTK/picture alliance

Unterwegs sahen wir zerstörte russische Ausrüstung, zerstörte Häuser, und es lag ein seltsamer fürchterlicher Geruch in der Luft. Die Straße, auf der wir in Richtung Schytomyr fuhren, war auf einer Seite kaputt, überall war wieder zerstörtes russisches Gerät zu sehen, dazwischen zerschossene zivile Autos. Es war ein Weg des Grauens. Es fehlen einem die Worte, dies zu beschreiben.

Ich fuhr und dachte: So bin ich schon einmal geflüchtet, nur damals mit einem einjährigen Kind im Arm, damals aus Tschernobyl. Und jetzt noch einmal, aus einer Besatzungszone, diesmal mit meiner 96-jährigen Mutter auf dem Schoß.

Jetzt sind wir an einem sicheren Ort, aber auch hier heulen ständig Sirenen. Jeder Luftangriff fühlt sich an, als hätte man jedes Mal eine Waffe im Rücken. Meine Mutter fragt jeden Tag nach ihrem Haus, bittet die Muttergottes, es zu retten, damit sie dorthin zurückkehren kann. Sie hat schon einen Krieg überlebt, und muss jetzt noch diesen zweiten mitmachen."

Geschichte 3: Oleksandr

"Bei diesem Anblick kamen mir die Tränen. Es war ein Bild wie aus dem Jahr 1941."

Oleksandr, Bewohner von Irpin. Er wurde am 10. März evakuiert.

"Bis zum 24. Februar konnten wir nicht glauben, dass es einen umfassenden Krieg geben würde, also haben wir uns in keiner Weise vorbereitet. Als wir an diesem Tag von Luftangriffen geweckt wurden, waren wir nicht in Panik, aber schockiert und deprimiert. Meine Frau und ich beschlossen zunächst sogar, zur Arbeit zu fahren. Doch im letzten Moment blieben wir zuhause, weil wir keine Netzverbindung mehr hatten. Bis zum 5. März blieben wir alle, meine Frau, mein 15-jähriger Sohn und ich, zuhause.

In der Nacht zum 5. März war es besonders laut und unruhig, also beschloss unser Nachbar, die Stadt zu verlassen und nahm meine Frau und meinen Sohn mit. Dafür werde ich ihm für immer dankbar sein. Unmittelbar nach ihrer Abreise begann etwas Schreckliches: Vier Stunden lang gab es die bis dahin heftigsten Angriffe. Sie waren so heftig, dass alle Schrauben, mit denen die Lampen in der Wohnung befestigt waren, heraussprangen und die Lampen nur noch an den Kabeln hingen. Wenig später traf ein Geschoss ein Nachbarhaus. Ab Mittag gab es keine Mobilfunkverbindung mehr.

Aus dem Fenster meiner Wohnung sah ich, wie ein russischer Militärkonvoi nach Irpin hineinfuhr. Eineinhalb Stunden später war ich schon im Kellergeschoss und sah durch die mit Brettern vernagelten Fenster etwa 300 russische Soldaten, alle so um die 19 bis 21 Jahre alt, und russisches Gerät im Hof ​​unseres Wohnhauses. Dann kam auch noch deren 'Militärpolizei'.

Mehrere Stunden lang konnte man aus dem Keller, wo viele Hausbewohner waren, beobachten, wie die russischen Soldaten im Haus gegenüber die Türen aufbrachen und den Laden plünderten. In einem Nachbarhaus richteten sie eine Reparaturwerkstatt ein, wo sie später Räder und Ketten wechselten.

Den Keller verließ ich mit erhobenen Händen. Doch sofort wurden Sturmgewehre auf mich gerichtet. Offenbar wurde gar nicht damit gerechnet, Zivilisten anzutreffen. Sofort wurde meine Tasche kontrolliert. Mir wurde meine Taschenlampe weggenommen und mein Handy wurde zerschmettert. In Begleitung eines Soldaten durfte ich in meine Wohnung gehen, um eine Decke und Kerzen zu holen.

Die nächsten zwei Nächte verbrachten wir im Keller. Ab und zu erschienen Militärs mit einem maskierten Mann. Sie suchten immer einen Mann unter den Bewohnern heraus und führten ihn ab. Die Männer wurden dann auf die Knie gezwungen und verhört. Das war psychisch sehr hart. Meistens kamen die Männer zurück, aber einer kehrte nie zurück. Nach der ersten Nacht sahen wir vier tote Bewohner auf der Straße liegen, zwei Männer und zwei Frauen. Eine davon war die Verkäuferin des geplünderten Ladens. Wir durften sie nicht einmal begraben. All die Tage, die ich dort war, lagen die Leichen auf der Straße.

Tagsüber durften wir den Keller verlassen, um zu rauchen, auf Toilette zu gehen, Luft zu schnappen und die Tiere in den Wohnungen zu füttern. Die Militärs begleiteten uns überall hin. Nachts war es verboten, herauszugehen, man durfte überhaupt den Bereich der Wohnanlage nicht verlassen. Wir konnten nur das essen, was wir noch auf Lager hatten. Gleichzeitig verteilten die Militärs Essensrationen, die allerdings nicht alle Bewohner annahmen. Wir haben auf einem Grill Essen zubereitet, denn seit dem 5. März gab es weder Strom, Heizung noch Gas. Von überall hörten wir Explosionen und Granaten.

Dass es humanitäre Korridore gab, wussten wir, aber es war unrealistisch, zur Sammelstelle zu gelangen. Die Russen ließen uns einfach nicht raus. In einem Moment gelang es aber meinem Nachbarn und zwölf weiteren Bewohnern zu fliehen. Was wir sahen, war deprimierend: ein getöteter Radfahrer, ausgebombte Cafés, ein Panzer in fast jedem Hof, zerstörte Häuser und Tore sowie von Granaten getroffene Autos. Wer kein Auto hatte, musste zu Fuß fliehen. Bei diesem Anblick kamen mir die Tränen. Es war ein Bild wie aus dem Jahr 1941. Ich sah einen Mann mit Krücken stehen, ein etwa siebenjähriges Mädchen mit einer riesigen Tasche, Menschen mit Hunden, Katzen und Bündeln von Decken.

Als wir endlich den ukrainischen Kontrollpunkt erreichten, trauten wir unseren Augen nicht. In fünf Tagen unter den Besatzern hatte ich mich offenbar an die Verwüstungen gewöhnt. Doch nun sah ich offene Geschäfte und lächelnde helfende Menschen. Wir konnten duschen, bekamen heißen Tee und ich konnte meine Frau anrufen. Das war für mich nicht nur eine Erleichterung, sondern sozusagen die Rückkehr ins Leben. Ich habe diese fünf Tage irgendwie überlebt, aber keinen davon werde ich ihnen jemals verzeihen."