Wegweisendes Urteil
30. Juli 2013"America the beautiful", sang die bunte Menschenmenge am 16. Juni vor dem Verfassungsgericht, als sie erfuhr, dass die Richter heiratswilligen homosexuellen Paaren mehr Rechte zusprechen. Ein neues Lebensgefühl macht sich seitdem breit unter Amerikas Schwulen und Lesben. Schon wenige Tage nach dem bahnbrechenden Urteil ging eine Heiratswelle durch das Land. In jenen Staaten, in denen die gleichgeschlechtliche Ehe gesetzlich geregelt ist, entschlossen sich Tausende von schwulen und lesbischen Paaren zu heiraten.
Unter ihnen auch Lisa Dazols und Jennifer Chang (Bild oben) aus San Francisco, für die das Urteil gleich einen doppelten Anlass lieferte. Zum einen schafften die Richter mit einem Federstrich alle Benachteiligungen für gleichgeschlechtliche Ehepaare in den USA ab. Außerdem erklärten sie für Kalifornien das Ergebnis eines Volksbegehrens für ungültig, in dem sich eine Mehrheit gegen die Homo-Ehe ausgesprochen hatte. Damit war der Weg frei für Lisa und Jenny, in der prachtvollen City Hall von San Francisco ganz offiziell den Bund fürs Leben zu schließen.
Eine große Erleichterung
"Wir hatten bereits zwei Wochen vorher in einer privaten Zeremonie geheiratet", erzählt Lisa der Deutschen Welle. "Aber das fühlte sich noch nicht wirklich wie eine Heirat an. In der City Hall wurde unsere Liebe vor dem Gesetz der Vereinigten Staaten anerkannt und das ist noch viel stärker als die Familienzeremonie. Das war sehr emotional und wir fühlten eine große Erleichterung, nicht mehr diskriminiert zu sein."
Wer sich die Hochzeitsbilder der beiden ansieht, dem vermittelt sich auch jetzt noch dieses große Gefühl, das sich der beiden in diesem Augenblick bemächtigt hat. Für die beiden Frauen ging ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Ein Happy End für ihre gemeinsame Geschichte nach vielen schmerzvollen Herausforderungen.
Anerkennung durch Regierung und Gesellschaft
Viele ihrer gemeinsamen Freunde planen nun, es ihnen gleichzutun und wollen heiraten. Doch Jennifer Chang weist darauf hin, dass dies kein spontaner Wunsch aus einem momentanen Hochgefühl ist. "Manche sind zehn Jahre und länger zusammen. Diese Liebesbeziehungen haben schon immer existiert. Wir feiern hier mit unseren Hochzeiten eine lange Liebe. Es ist eine Anerkennung der Regierung und der Gesellschaft. Sie erkennen an, dass diese Liebe Wirklichkeit ist und genauso legitimiert ist wie von anderen Paaren."
Es scheint, als seien die Schwulen und Lesben in der Gesellschaft angekommen. Sich zu seiner Homosexualität öffentlich zu bekennen, erfordert zwar selbst in Städten wie San Francisco immer noch Mut. Doch es ist einfacher geworden, seit die obersten Richter und mit ihnen das politische Establishment das Thema Homosexualität endgültig aus der Schmuddelecke geholt haben.
Vergleichbar mit Kampf für Rassengleichheit
Und es verstärkt sich der Eindruck, als würden viele Amerikaner ihr Verhältnis zu ihren homosexuellen Mitbürgern neu überdenken. Reverend Roland Stringfellow, der in seinem jungen Leben schon viele homosexuelle Paare getraut hat, spürt den gesellschaftlichen Wandel sehr deutlich. "Als Afro-Amerikaner, der den Kampf für Rassengleichheit in den USA verfolgt hat, kann ich sagen: Wie Amerika seine Haltung zu Afro-Amerikanern geändert hat, ist vergleichbar damit, wie die Gesellschaft heute ihre Haltung gegenüber Schwulen und Lesben ändert, die heiraten wollen." Die Stimmen der Unterstützer seien lauter geworden, sagt er der Deutschen Welle. Menschen, die bisher eingeschüchtert wurden, fühlen sich jetzt ermutigt, zu ihrer Homosexualität und zu ihrer Liebe zu stehen.
Dieser grundlegende gesellschaftliche Wandel ist aber nicht nur von unschätzbarem politischem Wert für die schwul-lesbische Bewegung. Er hat für jeden einzelnen auch ganz persönliche Auswirkungen. Er tut den Menschen einfach gut, erzählt Lisa Dazols, die als Therapeutin und Sozialarbeiterin mit HIV-positiven Patienten zusammen ist, darunter 95 Prozent schwule Männer: "Ich habe innerhalb einer Woche eine Verbesserung der seelischen Gesundheit festgestellt. Wenn Menschen diskriminiert und verfolgt werden und wenn sie den Stress fühlen, in ihrer Beziehung nicht unterstützt zu werden, führt das zu Angst und Depressionen. Es war das Beste, was unserem Glück und unserer Gesundheit passieren konnte."
Hoffnung auf Dominoeffekt
Doch Amerikas Homosexuelle fühlen sich noch lange nicht am Ende ihres Kampfes. Dass sie nur in zwölf der 50 Bundesstaaten sowie in der Hauptstadt Washington heiraten dürfen, daran hat der Richterspruch nichts geändert. "Das ist die nächste Front für uns", weist der kampferprobte Reverend Stringfellow die Richtung. Er ist persönlich von dem Gesetzes-Patchwork betroffen, wenn er jetzt von Kalifornien nach Michigan umzieht, wo es keine gleichgeschlechtliche Ehe gibt. "Das hat nichts mit Gleichheit und Fairness zu tun", empört er sich und hofft auf einen politischen Dominoeffekt auch in seinem neuen Heimatstaat.
Bei den Betroffenen überwiegt die Zuversicht, dass es am Ende für die Schwulen und Lesben in ganz Amerika ein Happy End geben wird. "Wenn Kinder ihr Coming Out haben, sorgen sich die Eltern, dass es ein viel härteres Leben ist. Das muss nicht so sein", sagt Lisa Dazols. "Und das ist ein unglaublicher Schritt vorwärts. Er zeigt, wir haben Gleichheit, wir stehen zu unserer Beziehung, können Kinder aufziehen, können ein Beispiel für die Liebe geben."
Das können auch die Ehemänner Stuart Gaffney und John Lewis, die seit vielen Jahren für die Rechte der Schwulen und Lesben eintreten. Der Gesundheitsmanager Gaffney hat schon viel erlebt, doch der Richterspruch löst in ihm ein bisher kaum gekanntes Hochgefühl aus: "Wir werden den Kampf für schwule Rechte nach einer neuen Zeitrechnung einteilen - die Zeit nach und die Zeit vor dieser Gerichtsentscheidung. Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts leben wir in einer ganz neuen Welt: Unser Kampf ist jetzt nicht mehr aufzuhalten. Wir sind motiviert wie nie zuvor, den Job zu Ende zu bringen."