Eine Stadt und die Rechten: Chemnitz und die AfD
15. Juni 2024"Die blaue Welle" - so feiern die Anhänger der "Alternative für Deutschland" die jüngsten Erfolge ihrer Partei. Blau ist die Farbe der radikalen Rechten. Und wenn man auf einer Deutschlandkarte alle Wahlkreise, in denen die AfD bei den jüngsten Europa- und Kommunalwahlenzur stärksten politischen Kraft gewählt wurde, blau einfärbt, dann ist praktisch der gesamte Osten der Republik blau. Auch die Großstadt Chemnitz.
"Man merkt einfach, dass die Leute aufwachen", erklärt Nico Köhler zufrieden. Er ist der AfD-Kreisvorsitzende in Chemnitz. Der 48-Jährige Unternehmer vertritt die AfD im Stadtrat. Er ist freundlich, sportlich-leger gekleidet und nimmt sich Zeit für ein Gespräch vor Ort. Seine Partei ist in Chemnitz zur stärksten politischen Kraft geworden und hat bei der Kommunalwahl 24 Prozent der Wählerstimmen gewonnen, bei der Europawahl 28 Prozent. Was will seine Partei mit den Erfolgen anfangen?
"Das Wohlfühlverhalten in der Stadt muss steigen", sagt er "Ordnung und Sicherheit, das ist das, wo wir ranmüssen." Mehr Polizei fordert er für seine Stadt, "Die Menschen gehen ungern in die Innenstadt, vor allem in den Abendstunden. Es passieren sehr viele Dinge, ob es nun Überfälle sind oder man wird mal ausgeraubt oder Frauen werden begrapscht. Das ist seit 2015 schon eine Konstante." Er hätte auch sagen können: "Das sind die Ausländer", aber er sagt "2015".
AfD: gegen Flüchtlinge und Migranten
Die Jahreszahl ist für die AfD und für die politische Rechte die Chiffre für so ziemlich alles, was ihrer Ansicht nach schief läuft in Deutschland. 2015 fliehen rund zwei Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak nach Europa. Die meisten kommen nach Deutschland. Gegen den Widerstand der AfD.
Die Debatten über Asyl und Migration verschärfen sich dann noch mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die gesamte Ukraine ab 2022. Denn eine neue Fluchtbewegung erreicht Deutschland. Begleitet wird sie von einem Dauerfeuer der AfD. Einen "Bevölkerungsaustausch" nennt die Partei die Aufnahme von Geflüchteten. Alle anderen Parteien erklärt sie zu Feinden Deutschlands, die das Land zu Grunde richten würden. Die das Land in einen Krieg mit Russland treiben würden. Die Parolen verfangen bei den Wählerinnen und Wählern. Auch in Chemnitz. Auch bei Nico Köhler von der AfD in Chemnitz.
"Ich sag mal, jemanden, der aus der West-Ukraine herkommt, wo eigentlich in seinem Teil heile Welt herrscht, den müsste ich eigentlich nicht durchfüttern." Allerdings: Erst im März 2024 hat Russland dort die Stadt Lwiw angegriffen. 20 Raketen. 7 Drohnen.
Köhler ist gegen deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine. Dass die AfD-Fraktion am 11. Juni 2024 fast geschlossen den Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi im Bundestag boykottiert, hält er für nachvollziehbar. "Es gibt schon einige Leute im Deutschen Bundestag, die nicht dafür sind, dass er ständig irgendwelche Waffen und Geld in den Hintern geschoben kriegt." Solche Sprüche kommen an auf der Straße.
Die Kriege der vergangenen Jahre haben Chemnitz verändert. In der Stadt mit 250.000 Einwohnern ist der Anteil an ausländischen Menschen stark angestiegen, auf fast 35.000. Und sie sind Teil des Stadtbildes geworden. Es gibt Teestuben in der Stadt, Shisha Bars, arabische Lebensmittelgeschäfte. Dabei gehört Chemnitz laut Kriminalstatistik der Polizei 2023 zu den sichersten Städten in Deutschland. Und Deutschland zu den sichersten Ländern auf der Welt. Aber die AfD schürt massiv Vorurteile und Ängste gegen Migranten. Auch deswegen wird sie in Sachsen vom Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextrem" eingestuft.
Für Chemnitz fordert Nico Köhler harte Maßnahmen gegen Migranten und Ausländer: Viele will er aus den Schulklassen raushaben: "Der Migrationsanteil in den Klassen muss sinken", sagt er. Und für kriminelle Ausländer fordert er ein Betretungsverbot für Chemnitz.
Die zwei Gesichter von Chemnitz
Zeran Osman hat ein ganz anderes Bild von ihrer Stadt. Und auch von der Kriminalität in Chemnitz. "Die Chemnitzer Innenstadt ist wahnsinnig klein. Natürlich passiert da auf einer super engen Fläche ganz viel, aber wenn man sich mal weiter angucken würde, was ist die Innenstadt, na dann wird es halt stinkend langweilig und ab 18:00 Uhr sind die Bürgersteige der Fußgängerzonen nach oben geklappt." Zeran Osman lebt seit acht Jahren in Chemnitz. Sie hat hier studiert und macht jetzt entwicklungspolitische Bildungsarbeit für den Verein ASA-FF, ein Netzwerk für Demokratie und gegen Rassismus.
Dass jetzt mehr Ausländer in der Stadt leben als noch vor zehn Jahren findet sie gut. "Es waren komplett leerstehende Straßen mitten in der Innenstadt - die sind einfach wiederbelebt und das wäre nicht passiert, wenn hier nicht migrantisches Leben wäre." Zeran Osman kommt eigentlich aus Halle an der Saale, rund eineinhalb Autostunden von Chemnitz entfernt. Sie kämpft für ein demokratisches und vielfältiges Chemnitz. Und gegen die AfD.
Der Wahlsieg der AfD bei den Europa- und Kommunalwahlen am 9. Juni hat sie hart getroffen. "Es war zu erwarten und trotzdem trifft es härter, und es ist noch schlimmer als befürchtet."
Die AfD ist in Deutschland seit Jahren auf dem Vormarsch. Obwohl oder vielleicht sogar weil sie immer radikaler und extremistischer wird. Und sie schlägt immer aggressivere Töne in der Auseinandersetzung mit den anderen Parteien an. Alarmierend ist für Zeran Osman dabei vor allem die Reaktion der Wählerinnen und Wähler: "Ich habe persönlich das Gefühl, dass da Veränderungen gewünscht sind, koste was es wolle. Und das ist schon erschütternd, das irgendwie so zu merken."
Chemnitz - Rückzugsort für Neonazis
Der Aufstieg der AfD hat für ihr Leben in Chemnitz konkrete Folgen: Beschimpfungen, Beleidigungen und Angriffe gegen Migranten in der Stadt nehmen zu. Statistiken von Opferberatungsstellen belegen dies. Und: Chemnitz ist seit vielen Jahren ein Rückzugsort für deutsche Neonazis. Hier konnte Ende der 1990er Jahre die rechtsextreme Mörderbande NSU untertauchen. Weil sie in der Stadt auf ein großes Netz aus Sympathisanten und Helfern bauen konnte.
Im August und September 2018 kam es tagelang zu Naziaufmärschen und Ausschreitungen in Chemnitz, Auslöser war ein Tötungsdelikt an einem Mann auf einem Stadtfest wenige Tage zuvor. Die mutmaßlichen Täter hatten laut Medienberichten einen Migrationshintergrund. In der Folge machte ein rechter Mob regelrecht Jagd auf tatsächliche oder vermeintliche Migranten, Gegendemonstranten, Polizisten und Pressevertreter. Rechtsextremisten griffen auch ein jüdisches Restaurant in der Stadt an.
Menschen wie Zeran Osman und viele engagierte Vereine in der Stadt kämpfen seit Jahren leidenschaftlich für einen Wandel in der Stadt. Und sie bekommen auch viel Unterstützung. Aber die ist mit dem Aufstieg der AfD in Gefahr. Denn die AfD lehnt Demokratieprojekte wie das von Zeran Osman, ASA-FF, generell ab. Die permanenten Angriffe kosten die Mitarbeitenden Kraft: "Wir müssen auch auf uns achten und gegenseitig gucken, dass wir das überhaupt schaffen und durchhalten." Sie brauchen dringend Hilfe von der Bundesregierung aus Berlin, sagt Osman. "Weil hier vor Ort in Chemnitz in der Region selbst in Sachsen wird bis zu den Landtagswahlen nichts mehr kommen, im Gegenteil. Wir werden noch viele Steine in den Weg gelegt bekommen."
Entmutigt ist Zeran Osman bislang nicht von den Erfolgen der AfD. Auch nicht ihre Mistreiterinnen. Eher kämpferisch. Denn es ist ihre Stadt. Ihr Land. Gleichzeitig aber wachsen mit dem Vormarsch der AfD auch die Sorgen vor Bedrohungen. Nicht nur bei ihr.
Bedrohungen und Beschimpfungen
"Es gibt in Chemnitz einige Ecken, in die ich mich nicht traue zu gehen", erzählt Avery. Er ist 19 Jahre alt und sitzt vor dem Karl-Marx-Monument im Herzen der Stadt. Es ist das Wahrzeichen der Stadt, die in der ehemaligen DDR noch Karl-Marx-Stadt hieß. "Dann wird mir 'Scheiß-Schwuchtel' hinterher geschrien. Weil auf seinen Turnschuhen ein Regenbogen aufgedruckt ist, das Symbol der LGBTQ-Bewegung.
Die AfD wehrt sich gegen alle Vorwürfe, dass sie Hetze und Hass befeuere. Und dagegen, dass sie eine extremistische und rassistische Partei sei. "Normal" nennt sie sich selbst. Normal heißt in Chemnitz, dass für die AfD mit Lars Franke ein Mann in den Stadtrat einzieht, der schon mal im T-Shirt mit einem Hitler-Smiley rumgelaufen ist. Der sich an Neonazi-Aufmärschen beteiligt hat. Und der aus dem Umfeld der rechtsextremen Terrorbande NSU stammt. Er ist ein Parteifreund von AfD-Mann Nico Köhler.
Am Karl-Marx-Monument treffen wir noch einen jungen Mann. Leon heißt er, ist freundlich, trägt einen Kapuzenpullover und fährt ein BMX-Rad. Ja, er habe AfD gewählt, erzählt er. Wegen der Ausländer. Was sagt er dazu, dass die Gegner der AfD sagen, es sei eine Nazipartei? Das stört Leon nicht weiter. Er überlegt. Vielleicht stimme das ja zum Teil. Aber der Hitler, der sei ja auch so 50:50 gewesen. Der habe ja auch zum Teil richtig gehandelt. Aber so richtig, sagt Leon, kenne er die ganze Geschichte nicht.