Ein Heim für Kinder
7. Dezember 2006Auf den breiten Strassen voller Abgase herrscht reger Lkw-Verkehr. Entlang der endlosen Betonmauern wächst dichtes, vom Staub längst grau gewordenes Unkraut. Weit und breit keine Fußgänger. Hier in einem der Industriegebiete von Odessa am Rande der Stadt befindet sich das staatliche Gebietszentrum für AIDS-Diagnose. Es entsteht der Eindruck, die HIV-Infizierten seien extra so gut versteckt worden, damit sie bloß nicht stören und nicht an diese schreckliche Krankheit erinnern.
Immer mehr infizierte Kinder
Das gilt auch für infizierte Kinder, deren Zahl in den vergangenen Jahren immer größer geworden ist. "Kindergärten wollten die Kleinen nicht nehmen", sagt Olga Alexandrov, Koordinatorin von Projekten der NGO "Das Leben Plus". "Die Eltern wussten nicht, wie es mit ihren Kindern wegen der Diskriminierung in der Gesellschaft weiter gehen soll."
So entstand die Idee, eine spezielle Kindertagesstätte zu gründen. Das nötige Geld für dieses Vorhaben kam von UNICEF. Laut offiziellen Angaben sind in Odessa bereits 180 Kinder registriert, die sich bei ihren HIV-positiven Müttern angesteckt haben.
Auf dem grünen Teppichboden spielen ein paar Mädchen und Jungen mit farbigen Bausteinen. An hellgelben Wänden hängen Kinderbilder. Darunter Regale mit Spielzeug und Bilderbüchern. Der dreijährige Sergei beschäftigt sich gerade mit seinem Lieblingsauto. "Während der Schwangerschaft habe ich erfahren, dass ich HIV-positiv bin", erzählt seine Mutter. "Hier kann ich meinen Sohn für ein paar Stunden lassen. Hier spielt er mit anderen Kindern und es gibt qualifizierte Erzieher."
Freundliche Erinnerungen
Solange das Kind in der Tagesstätte ist, kann seine Mutter in Ruhe die Ärzte besuchen und notwendige Behandlungen bekommen. Monatlich kämen rund hundert Patienten mit ihren Kindern hierher, berichtet Olga Alexandrova. Täglich sind drei bis zehn Jungen und Mädchen dabei. Die Anmeldung in einem konventionellen Kindergarten hat man nicht aus den Augen verloren.
"Jetzt machen wir es anders. Wenn wir ein Kind in einem städtischen Kindergarten anmelden, dann erzähle ich dem medizinischen Mitarbeiter dieser Einrichtung über die Krankheit des Kindes. Ich muss das machen", erzählt Alla Demianenko, eine Mitarbeiterin der Kindertagestätte. "Aber gleichzeitig erinnere ich ihn daran, dass es einen Artikel im Strafgesetzbuch über die Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht gibt."
Solche "freundlichen Erinnerungen", so Alla Demianenko, stellten sich als sehr wirkungsvoll heraus. Inzwischen ist die Tagesstätte für AIDS-kranke Kinder zu einem einzigartigen Dienstleistungs- und Konsultationszentrum geworden. Die Mitarbeiter der Organisation "Das Leben Plus" helfen den Eltern auch bei der Lösung verschiedener anderer Probleme.
Aufklärung für Erwachsene
"Wenn ich Dienst habe, dann konsultiere ich alle Eltern, die ihre Kinder zu uns gebracht haben", sagt Alla Demianenko. "Gewöhnlich sind es ja Leute, denen sozial geholfen werden muss, und wir helfen ihnen dabei, eine solche Hilfe zu bekommen. Viele wissen überhaupt nicht, dass ihre Kinder das Recht auf Sozialleistungen haben."
Nach offiziellen Angaben haben in Odessa bis zum Anfang dieses Jahres über 800 HIV-infizierte Frauen Kinder bekommen. Daher spielt auch die Aufklärungsarbeit unter den Erwachsenen zur Vorbeugung der Mutter-Kind-Übertragung von AIDS eine große Rolle in dem Projekt. Die Mitarbeiter der Organisation "Das Leben Plus" richten sich auch an die breite Öffentlichkeit.
Offiziell gibt es rund 96.000 HIV-Infizierte im Land, unabhängige Experten sprechen von über 400.000. Experten warnen bereits, ohne effektive Präventionsmaßnahmen könne die Zahl der HIV-Fälle in der Ukraine bis 2010 auf 1,44 Millionen steigen. "Wenn man weiß, auf welchen Wegen HIV übertragen wird und wie man sich vor einer Infektion schützen kann, dann wird man auch sein Verhalten gegenüber der AIDS-Infizierten ändern", meint Olga Alexandrova.