Einzige Integrationsfigur
13. Juni 2003Hamid Karsai war blendender Laune. Zufrieden stieg Afghanistans Präsident am vergangenen Freitag (6.6.2003) ins Flugzeug nach Hause. Hinter ihm lag ein erfolgreicher Großbritannien-Besuch: Die Queen hatte ihm das Ritterkreuz verliehen, und er selbst hatte verkündet, die Extremisten in seinem Land seien nun "zu keinen größeren Anschlägen mehr fähig". Schon am Morgen danach wurde Karsai eines Besseren belehrt. Kaum in Kabul angekommen, erfuhr er, dass sich soeben ein Selbstmordattentäter in die Luft gejagt hatte. Vier deutsche Soldaten wurden bei dem Attentat getötet, über 30 Menschen verletzt.
Kein Anlass zum Feiern
Genau ein Jahr ist es an diesem Freitag (13.6.2003) her, dass Hamid Karsai, damals noch Chef einer Übergangsregierung, von der obersten afghanischen Stammesversammlung zum neuen Präsidenten des Landes gekürt wurde. Doch einen Anlass zum Feiern dieses kleinen Jubiläums gibt es derzeit nicht. Sicher, zwei Millionen Flüchtlinge sind seit dem Ende der Taliban-Herrschaft nach Afghanistan zurückgekehrt, drei Millionen Kinder gehen wieder jeden Tag in die Schule, im kommenden Juni soll es die ersten freien und demokratischen Wahlen geben. Doch dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Afghanistans Wiedergeburt als moderner Staat auf des Messers Schneide steht.
Warlords kontrollieren das Land
Dass sich der Anschlag auf die Bundeswehrsoldaten ausgerechnet in Kabul ereignete, dürfte den Präsidenten tief getroffen haben. Schließlich galt die Hauptstadtregion als einziger sicherer Hort in einem Land, in dem das Chaos regiert: Karsai, so spotten viele Afghanen mittlerweile, sei in Wirklichkeit der "Bürgermeister von Kabul". Denn von einer Entmachtung der insgesamt 32 Provinzfürsten - Karsais erklärtem Ziel bei Amtsantritt - kann bislang nicht ansatzweise die Rede sein. Im Gegenteil: vielen dieser "Warlords" ist es in den letzten Monaten gelungen, die von ihnen kontrollierten Gebiete auszudehnen.
Blühender Drogenhandel
Das Geld dafür beschaffen sich viele Stammesfürsten über den Opiumschmuggel. Überall im Land erblühen die Mohnfelder; "Im Chaos nach dem Krieg kann die Drogenmafia wieder ungestört Geschäfte machen", klagt Bernard Frahi, Mitarbeiter des UN-Drogenkontrollprogramms. Insgesamt 3400 Tonnen Opium, fast zwanzig Mal so viel wie vor dem Sturz der Taliban, habe Afghanistan 2002 produziert, sagt der Franzose Frahi. Das entspreche drei Viertel des weltweit hergestellten Opiums – oder Rohstoff für Heroin im Schwarzmarktwert von rund 25 Milliarden US-Dollar.
Karsai in Finanznöten
Wie ein Tropfen auf dem heißen Stein erscheinen dagegen die 1,8 Milliarden Dollar, die Afghanistan bislang von der internationalen Gemeinschaft erhalten hat. Und selbst diese Gelder sind bislang größtenteils in humanitäre Eilmaßnahmen sowie die Ansiedlung der UN-Mitarbeiter vor Ort geflossen – und damit vorbei an Karsai. "Über die Regierung sind nur elf Prozent der Hilfsmittel verteilt worden", beschwert sich der Präsident. Als er Ende Mai nicht einmal mehr seine eigene Polizei bezahlen konnte, weil sich die Provinzfürsten weigerten ihre Steuerschulden von 500 Millionen Euro zu tilgen, drohte Karsai zwischenzeitlich sogar mit seinem Rücktritt.
Einzige Integrationsfigur
Doch sein Poker ging auf. Schließlich ist Karsai noch immer die einzige Integrationsfigur in seinem durch Kriege und ethnische Spannungen zerrissenen Land: Als Paschtune hat er gemeinsam mit Tadschiken und Usbeken gegen die Sowjetunion und die Taliban gekämpft. Nur er besitzt das Vertrauen des reichen Westens – und gerade unter der einfachen Bevölkerung genießt er noch immer hohes Ansehen. Denn er ist gläubiger Moslem und ein unermüdlicher Kämpfer. "Wir haben unserem Land eine Vision gegeben", sagt Karsai stolz. Und um diese zu verwirklichen, arbeitet der notorische Frühaufsteher oft bis tief in die Nacht hinein. Denn Aufgeben kommt für Karsai nicht in Frage. Auch wenn er manchmal wie ein moderner Don Quijote wirkt, der gegen scheinbar übermächtige Gegner für das Menschliche kämpft.