Empörung und Tränen bei Siemens
17. November 2017"Es ist einfach unfassbar. Ein vollausgelastetes Werk kann man doch nicht einfach schließen. Und dann noch hier im äußersten Osten!" Ein Arbeiter bei der Kundgebung vor dem Werk in Görlitz drückt aus, was vielen Beschäftigen des Elektrokonzerns die Adern anschwellen lässt. Die Werke in Görlitz und in Leipzig, beide in Ostdeutschland, sollen komplett geschlossen werden - insgesamt 920 Menschen arbeiten hier.
Am Standort Mülheim an der Ruhr, weit im Westen, sollen 640 Stellen wegfallen. Auch Offenbach gilt als hoch gefährdet, weil die Kraftwerksplanung im gut 200 Kilometer entfernten Erlangen konzentriert werden soll. In Berlin stehen insgesamt 870 Stellen auf der Streichliste. Hier ist das historische Turbinenwerk in Moabit akut gefährdet - in einer Ikone der Industriearchitektur, einer gut hundert Jahre alten Halle des Baumeisters Peter Behrens, werden riesige Gasturbinen gebaut.
Demonstrationen
An diesem Freitag verlässt kein Sattelschlepper mit den schweren Aggregaten das Werk, an diesem Freitag wird demonstriert. Vor der Berliner Siemens-Zentrale, ein paar Kilometer entfernt, versammelten sich gleich am Morgen 1.300 Beschäftigte auf dem Betriebsgelände, um gegen die Einschnitte zu protestieren. Der Regierende Bürgermeister Berlin, Michael Müller von der SPD, findet ebenfalls, die Pläne des Industriegiganten seien "nicht hinnehmbar".
In Erfurt bringt der örtliche Betriebsratschef die verzweifelte Stimmung auf den Punkt, als gut 500 Siemens-Beschäftige vorzeitig eine offizielle Betriebsversammlung verlassen. "Tränen sind geflossen", sagt Betriebsrat Mario In der Au. "So eine Stimmung habe ich schon lange nicht mehr erlebt." Ein Vertreter des Konzerns wollte die Belegschaft am Vormittag über zwei Optionen für das Erfurter Generatorenwerk mit seinen 700 Jobs informieren: Verkauf oder Personalabbau inklusive Produktverschlankung.
Die Mitarbeiter seien "hochgradig enttäuscht", die Stimmung bei Arbeitern und Angestellten sei explosiv, sagte Betriebsrat In der Au: "Sie können das in keinster Weise nachvollziehen". Der Münchener Dax-Konzern hatte die Streichung von weltweit 6.900 Stellen angekündigt, davon etwa die Hälfte in Deutschland. Als Grund für die Einschnitte nannte Siemens schlechte wirtschaftliche Perspektiven für die Sparten Kraftwerksbau und Antriebstechnik.
Milliardengewinne und "schmerzhafte Einschnitte"
Milliardengewinne und gleichzeitig ein drastischer Abbau von Jobs - das ist es, was die Stimmung bei der Belegschaft so anheizt. Noch in der letzten Woche hatte Konzernchef Joe Kaeser geschwärmt, die Jahresbilanz dürfte wohl noch einmal besser ausfallen als im historisch guten Vorjahr. Aber schon da kündigte Kaeser"schmerzhafte Einschnitte" im Kraftwerksgeschäft an.
Von deren Ausmaß zeigte sich auch Gesamtbetriebsratschefin Birgit Steinborn entsetzt: "Die Abbaupläne sind ein Tiefschlag für die Mitarbeiter", sagt sie. "Angesichts der erneuten Rekordgewinne ist dies auch schwer nachvollziehbar", so Steinborn. "Diese Ankündigung von Standortschließungen und von Personalabbau, der angeblich aus Strukturgründen alternativlos ist, das ist für uns gar keine Basis für Verhandlungen", so die oberste Betriebsrätin weiter: "Wir sind nicht die reinen Abwickler von Personalabbau."
Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich von der CDU hatte das geplante Ende der Standorte Leipzig und Görlitz gleich am Donnerstag als "unverantwortlich" kritisiert. Die Entscheidung lasse "jegliche regionale Verantwortung eines großen deutschen Konzerns vermissen".
Ins gleiche Horn blies der Oberbürgermeister der ostdeutschen Metropole von Leipzig, der SPD-Politiker Burkhard Jung: Er warf dem Technologiekonzern fehlende "Verantwortung für Mitarbeiter und Regionen" vor. Milliardengewinne und der Rausschmiss tausender Mitarbeiter, das sei "leider kein Widerspruch". Die Belegschaft müsse nun ausbaden, dass Siemens "offensichtlich die Energiewende" verschlafen habe.
ar/bea (dpa, rtr, afp)