Endlich ein Grab für Hitlers Feinde
13. Mai 2019Nun hat sie einen Ort. Einen Ort der Trauer um ihre Mutter. Saskia von Brockdorff ist 81 Jahre alt. Ihre Mutter Erika Gräfin von Brockdorff wurde am 13. Mai 1943 - auf den Tag genau vor 76 Jahren - in der NS-Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee enthauptet. Nichts blieb der einzigen Tochter von der Mutter, kein Grabesort, keine Spur. Hitler-Deutschland wollte jedes Grab, das zum Kult-Ort des Widerstands hätte werden können, verhindern. So verschwand die Asche der vielen Hingerichteten auf Berliner Friedhöfen.
Eine sehr deutsche Geschichte
Bis zu diesem Montag. Am 76. Jahrestag der Hinrichtung von Erika von Brockdorff werden ihre menschliche Reste auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof im Herzen von Ost-Berlin beigesetzt. Es ist eine Geschichte vom entsetzlichen Handeln eines Mediziners, von Trauer und schwerem Erinnern. Erinnern an Menschen mit Mut. Es ist eine sehr deutsche Geschichte.
Vor drei Jahren tauchten im Nachlass des Anatomen Hermann Stieve (1886-1952) mikroskopische Präparate von gut 300 Hinrichtungsopfern auf, Präparate zumeist von Frauen. Winzige Reste. Jeweils "ein sehr kleines Teil eines Organs, ein hundertstel Millimeter dünn", beschreibt es der Medizinprofessor Andreas Winkelmann, der den Fund aufarbeitete.
Stieve, seit 1935 Direktor der Anatomie an der Berliner Charité, hatte mit den Nazis einen Deal. Er bekam die noch warmen Leichname der frisch Hingerichteten, um an ihnen zu forschen. Sein Spezialgebiet war die Zyklus-Entwicklung der Frau. Der Mediziner nutzte die Leichen für Untersuchungen und Gewebe-Entnahmen und sorgte dann für deren Verbrennung und die Beseitigung der Asche.
Hinrichtungen im Drei-Minuten-Takt
Stieve, sagt der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Johannes Tuchel, war ein "Dienstleister der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz". Er schildert die besondere Härte Hitlers gegen die Widerständler der "Roten Kapelle". Das Reichskriegsgericht hatte Erika Gräfin von Brockdorff, die junge Mutter, zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Doch Hitler wollte die Todesstrafe, die Justiz folgte ihm und wandelte das Urteil um. "Am Abend des 13. Mai zwischen 19 Uhr und 19.36 Uhr, im Drei-Minuten-Takt, wurden die 13 Todesurteile vollstreckt." Gegen 20 Uhr trafen die Leichname bei Stiebe ein.
Karl Max Einhäupl, der heutige Vorstandsvorsitzende der Charité, sagt, Stieve sei Täter gewesen in doppelter Hinsicht. "Weil er versucht hat, an diesen Menschen Forschung zu betreiben, und weil er "die Entsorgung dieser Hingerichteten in großem Maße vorangetrieben hat. Die Angehörigen erfuhren nicht, wann und wie die Leichen entsorgt wurden." Einhäupl betont, es sei "völlig klar, dass es Menschen aus dem Widerstand gewesen sind". Der Charité-Chef sagt, "dass es um Aufklärung geht, um Erinnerung, um Gedenken, dass wir damit den Ermordeten ihre Würde zurückgeben können. Wir in der Charité werden das Gedenken an diese Opfer, die in der Wissenschaft benutzt wurden, groß halten", verspricht er.
Deutsch und Hebräisch
In der kleinen Kapelle des Dorotheenstädtischen Friedhofs feiern die evangelische Pfarrerin Marion Geidel und der katholische Pfarrer Lutz Nehk, die in ihren Kirchen regionale Beauftragte für Erinnerungskultur sind, und Rabbiner Andreas Nachama eine "interreligiöse Zeremonie". Texte aus der Heiligen Schrift. Ein Psalm in Deutsch und Hebräisch, ein Text des Propheten Ezechiel. Nachama spricht, die Hand auf der hellen, hölzernen Urne, ein Totengebet. Fürbittgebete der drei, die den Toten und allen Opfern gelten und die auch die Verantwortung der Heutigen ansprechen.
Dann geht es hinaus in die Idylle des frühlingssatten Friedhofs. Die Urne in den Händen eines Friedhofs-Mitarbeiters, die Geistlichen, einige Angehörige, einige Trauernde, Journalisten. Und irgendwie tragen alle die Rührung.
Der "Dorotheenstädtische", gut einen Kilometer nördlich des Reichstages gelegen, ist ein besonderer Friedhof im Herzen Berlins. Ein wenig wie Pere Lachaise in Paris. Seit dem 19. Jahrhundert finden hier bedeutende Bürger der Stadt ihre letzte Ruhe. Theaterleute und Literaten, Komponisten, Filmemacher und Architekten, Revolutionäre und bunte Vögel, auch Großdenker der DDR. Seit 2006 befindet sich hier die letzte Ruhestätte von Alt-Bundespräsident Johannes Rau.
Bei den Widerstandskämpfern
Und wenige Meter weiter, hinten im Grün erinnert ein hohes Kreuz und ein Steinquader an Widerstandskämpfer, die die Nationalsozialisten ermordeten. Einige der Mitwisser des gescheiterten Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 sind hier bestattet. Bei anderen wie Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi, die in Konzentrationslagern getötet wurden, findet sich zumindest der Name, auch wenn es keine sterblichen Überreste mehr gibt.
Gleich schräg gegenüber des Kreuzes endet der Trauerzug, sinkt die Urne ins Grab. Die Geistlichen laden zum gemeinsamen Gebet des "Vater unser" ein. Der Rabbiner spricht den Kaddisch, das jüdische Trauergebet. Einige wenige Regentropfen fallen. Viele Kameras klicken. Dann treten Angehörige, auch Einhäupl und Tuchel und Gäste heran und werfen Hände voller Erde in die kleine Grube, die später von einer Granitplatte verschlossen wird.
"Zellschnitte"
Auch Saskia von Brockdorff verharrt. "Sie müssen verstehen, irgendwelche Zellschnitte, wie die Anatomen sagen, die sind nicht meine Mutter. Meine Mutter, die ist etwas ganz anderes", sagt sie Minuten später. Sie ringt nach Worten. "Aber ich bin doch froh, dass es diesen Ort gibt. Weil ich sonst immer nach Plötzensee gegangen bin, das ist ein grausiger Ort." Plötzensee, die Hinrichtungsstätte von mehr als 2800 Menschen. Da mag hinzukommen, dass das Todesurteil der NS-Unrechtsjustiz gegen ihre Mutter erst 2009 aufgehoben wurde. Noch so eine deutsche Geschichte. Denn die "Rote Kapelle" war lange als kommunistischer Widerstand verschrien – was nicht stimmte. Es waren Freundeskreise. Und noch neben dem Grab erinnert die 81-Jährige, wie aus der Stube ihrer Dachwohnung der Funkverkehr der Widerständler lief - bis sie verraten wurden.
"Zeitzeugenschaft, das ist meine Aufgabe heute", sagt die alte Dame, die so oft jüngeren Menschen begegnet. Sie erzählt, dass in Berlin-Friedenau ein Stolperstein an ihre Mutter erinnere und dass ein Platz vor dem Bahnhof Südkreuz seit einigen Jahren Erika-Gräfin-von-Brockdorff-Platz heiße. Aber hier, sagt sie, "hier auf diesem Friedhof ist es schön." Nun hat sie einen Ort.