Endstation Tijuana
17. April 2017Auf der Treppe vor dem Emmanuel-Baptisten-Zentrum in der mexikanischen Stadt Tijuana sitzt eine Gruppe Haitianerinnen. Die Frauen flechten sich gegenseitig das Haar. Auf dem Platz vor ihnen rennen Kinder hinter einem Ball her und rufen wild durcheinander - einige auf Spanisch, andere auf Portugiesisch.
Viele der haitianischen Kinder sind in Brasilien aufgewachsen. Denn dort fanden ihre Eltern zunächst als billige Arbeitskräfte Zuflucht, nachdem ein Erdbeben 2010 und mehrere Wirbelstürme den Karibikstaat Haiti in Armut und Chaos gestürzt hatten. Bald aber rutschte auch Brasilien erst in eine Wirtschafts-, dann in eine Staatskrise, und inzwischen gibt es dort für die Haitianer keine Zukunft mehr. Viele sind deshalb weiter nach Norden gezogen und in Tijuana gelandet, wenige Kilometer entfernt von der US-Stadt San Diego.
In Tijuana haben Pastor Leonardo Franco und dessen Ehefrau Verónica Guadalupe Alvídrez im Zentrum ihrer Baptistengemeinde etwa 100 Haitianer aufgenommen. Alvídrez wirkt müde: "Dieser Ort ist einfach nicht geeignet, um 100 Menschen zu beherbergen", sagt sie, während sie einen sechsjährigen Jungen in die Arme nimmt.
Drei bis vier Familien, berichtet Alvídrez, schliefen derzeit in einem Raum, alle 100 Bewohner müssen sich zwei Badezimmer teilen. Die Wasserrechnung ist von 15 Euro auf 850 Euro pro Monat gestiegen, sodass das Pastorenehepaar in ihrer Gemeinde um finanzielle Unterstützung bitten musste: "Würden die Menschen von Tijuana nicht spontan Lebensmittel spenden, könnten wir sie überhaupt nicht ernähren."
Unerwarteter Ansturm
Allein in der zweiten Jahreshälfte 2016 kamen rund 8000 Haitianer auf dem Weg in die USA in Tijuana an. Ausgelöst hatte die Migrationswelle wohl ein Statement von Barack Obama: "Haitianer brauchen Mitgefühl, keine Abschiebung", hatte der damalige US-Präsident im Oktober 2016 gesagt, nachdem Hurrikan Matthew den Karibikstaat verwüstet hatte.
Zwar nahmen die US-Behörden die Ausweisung von haitianischen Flüchtlingen nur einen Monat später wieder auf. Doch da hatten sich viele bereits auf den Weg Richtung Norden gemacht.
Noch im Oktober hatte Pastor Franco dem Stadtrat von Tijuana mitgeteilt, dass er einige der Flüchtlinge in seinem Gemeindezentrum aufnehmen könne. Einen Tag später hatten dort 50 Haitianer ein Obdach gefunden - viele von ihnen erschöpft von der gefährlichen Reise aus Brasilien nach Mexiko. Und schon bald hatte sich ihre Zahl verdoppelt.
In anderen Auffangeinrichtungen ist die Situation ähnlich. Und nun, sagt Andrés Saldana Tavárez von der Heilsarmee im Bundesstaat Baja California, könnte sich die Lage noch einmal verschärfen: Die Haitianer sollen Platz machen - für Mexikaner, die im Zuge der strengeren Einwanderungspolitik der neuen US-Regierung vermehrt aus den USA ausgewiesen werden könnten.
Verkehrte Rollen
Die mexikanischen Behörden, sagt Saldana Tavárez, seien überhaupt nicht vorbereitet auf die vermehrten Abschiebungen aus den USA: "Sie sagen, die meisten Abgeschobenen blieben nicht lange hier in Tijuana. Aber sie begreifen nicht, dass alle Unterkünfte bereits voll sind und uns schon der kleinste Bevölkerungsanstieg vor ein riesiges Problem stellt."
César Aníbal Palencia von der städtischen Migrationsbehörde sieht das ähnlich: "Die Welle von Haitianern hat uns vollkommen überrascht und unser Budget war viel zu klein." Palencia fordert von der mexikanischen Bundesregierung, Mexikos Südgrenze besser zu kontrollieren, "damit wir wenigstens wissen, wie viele Menschen ins Land kommen."
Obwohl auch Mexiko selbst inzwischen zu einem Ziel von Migranten aus Mittel- und Südamerika sowie der Karibik geworden ist, wollen die meisten weiterhin Richtung USA ziehen. Viele von ihnen gelangen früher oder später in eine der großen mexikanischen Grenzstädte Reynosa, Nuevo Laredo, Ciudad Juárez oder eben Tijuana.
Dort hat die Heilsarmee, gemeinsam mit anderen lokalen Hilfsorganisationen, die mexikanische Regierung mehrfach aufgerufen, ein Flüchtlingslager einzurichten. Doch derzeit seien die Rollen vertauscht, sagt Saldana Tavárez: "Zivilgesellschaftliche Organisationen und christliche Gemeinden organisieren die Hilfe und die Autoritäten unterstützen sie dabei. Das ist das Gegenteil von dem, was normal sein sollte in dieser Situation."
Hoffnung auf Kanada
Während Tijuana dem Ansturm mexikanischer Rückkehrer aus den USA harrt, versuchen sich die Haitianer hier ein Leben einzurichten: "In Haiti haben wir nichts", sagt eine Frau namens Fedeline. Ihre Häuser seien entweder zerstört oder verkauft. "Es gibt keinen Weg zurück, keinen Weg vorwärts, keinen Weg nach Hause. Deshalb bleiben wir hier. Lieber für einen Dollar am Tag arbeiten, als gar nichts zu haben", sagt Fedeline.
Eine Hoffnung gibt es allerdings doch: Kanada, das eine andere Einwanderungspolitik verfolgt als die USA. Schon bald, hofft man bei den Hilfsorganisationen, werde man Bescheid kriegen, ob das Land humanitäre Visa für die gestrandeten Haitianer von Tijuana bereitstellt.