Enkel von Nazis brechen das Schweigen
31. August 2019Gabriele Palm-Funke kann sich genau an den Moment erinnern, als sie anfängt zu recherchieren. Zwölf Jahre ist das her. Sie und ihr kleiner Sohn reisen mit ihrer Mutter in deren Geburtsort nach Polen. Abends sitzen sie zusammen, reden über früher, über den verstorbenen Opa. Und dann sagt die Mutter plötzlich: "Die vielen Menschen mit den gelben Sternen werde ich nicht vergessen."
Palm-Funke zuckt damals innerlich zusammen. An diesem Abend erfährt sie, dass ihr Opa Wachmann in einem Lager mit jüdischen Gefangenen war. Dass es sich um das Konzentrationslager Trzebinia handelte, findet sie erst später heraus. Mit sechs Jahren hat ihre Mutter ihn dort besucht und die vielen Menschen gesehen, die einen Stern an ihrer Kleidung hatten, der sie als jüdisch kennzeichnete.
Zurück in Deutschland, fängt die Theologin Palm-Funke an, den Namen ihres Großvaters in Suchmaschinen einzutippen. Sie stellt eine Anfrage ans Bundesarchiv, stößt schließlich in einer Bibliothek auf das Buch eines Holocaust-Überlebenden, der ihren Opa, Oberwachtmeister Luboeinski, als Tier beschreibt. "Mir ging es dann erstmal richtig schlecht", sagt Palm-Funke. Wut, Scham überkommen sie. Und die drängende Frage: Warum hat nie jemand in der Familie darüber gesprochen? Warum wurde der Großvater nie bestraft, obwohl er einen 17-Jährigen im Lager erschossen hatte?
Nur ein Bruchteil der NS-Täter wurde bestraft
Geschätzt sind während der NS-Zeit 200.000 bis 250.000 deutsche, österreichische und "volksdeutsche" Männer und Frauen zu Tätern geworden. Nur ein kleiner Teil davon wurde vor deutschen Gerichten verurteilt.
Deutschland hat sein dunkles Kapitel des Nationalsozialismus, die Zeit zwischen 1933 und 1945, inzwischen gut aufgearbeitet. International wird die deutsche "Erinnerungskultur" gelobt. Es gibt Denkmäler, Gedenkstätten, im Schulunterricht nehmen die Gräuel der NS-Zeit viel Raum ein. Und trotzdem: In vielen Familien herrscht immer noch Schweigen über das, was der Opa oder die Uroma verbrochen haben - auch 80 Jahre nach Kriegsbeginn.
"Das hat viel mit Loyalität innerhalb der Familie zu tun"
Lena Ditte Nissen, heute 32, weiß seit sie 14 ist, dass Mitglieder ihrer Familie damals zu Tätern wurden. In ihrer Kölner Wohnung klickt sie sich durch Bilder in Schwarzweiß. Bilder von ihrer Urgroßmutter Nanna Conti, der obersten Hebamme im Deutschen Reich, verantwortlich dafür, dass Neugeborene mit Behinderungen getötet wurden. Und Bilder von ihrem Großonkel Leo Conti, der als Reichsgesundheitsführer an Menschenversuchen beteiligt war.
Im Herbst wird Nissen die Memoiren ihrer Großmutter als Kunstprojekt verarbeiten. Aufzeichnungen, aus denen hervorgeht, dass sie eine liebende Mutter gewesen sein muss - und gleichzeitig eine überzeugte Nationalsozialistin.
Nissen fing an, sich mehr und mehr mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen, als die Rechtspopulisten in Deutschland in die Landesparlamente einzogen, 2017 auch in den Bundestag. Gerade jetzt findet sie es wichtig, über die Täter in ihrer Familie zu sprechen, auch wenn sie "sehr große innere Widerstände verspürt", sagt Nissen. "Ich glaube, das hat viel mit Loyalität innerhalb der Familie zu tun. Dass man nicht die Nestbeschmutzerin sein möchte."
Seit einigen Monaten ist Nissen Teil einer Gruppe von Menschen, deren Familienmitglieder Mitläufer, Täter oder Opfer während der NS-Zeit waren. Die Familie von Peter Pogany-Wnendt, dem Leiter der Gruppe, gehört zu letzteren: seine Eltern überlebten den Holocaust, seine Großeltern, ungarische Juden, wurden wahrscheinlich von Nazis in Ungarn erschossen. In seiner Kölner Praxis zeigt der Psychotherapeut ein in Holz gerahmtes Bild von ihnen, "der Träger der Traurigkeit, des Schmerzes der Familie", sagt Pogany-Wnendt.
Das Schweigen zu dem, was vor Jahrzehnten passiert ist, zu diesem dunklen Fleck der Geschichte, beschäftigt den Psychotherapeuten seit langem. Viele, die im Krieg waren, am Holocaust beteiligt waren, hätten nie darüber gesprochen. "Unbewusst haben sie diese unverarbeitete Schuld und die Schamgefühle an die nächste Generation weitergegeben." Dass rechte Parolen und Antisemitismus in Deutschland gerade wieder salonfähig würden, könne auch eine Folge dieser unterdrückten Schuldgefühle sein, sagt Pogany-Wnendt.
Manchmal jahrzehntelanges Schweigen
Wie Lena Ditte Nissen und Gabriele Palm-Funke hat sich auch Guy Hofmann auf Spurensuche nach NS-Tätern in seiner Familie gemacht. Vor wenigen Jahren erst stieß er auf einen Wikipedia-Artikel über seinen Großonkel, der während der Nazi-Diktatur Direktor eines wichtigen Amtes in München war. Und der kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges einen Widerstandskämpfer erschoss. Hofmann wuchs in der Nähe des Tatorts auf, ging als Kind und Jugendlicher häufig daran vorbei. Dass ein Familienmitglied dort zum Verbrecher geworden war, darüber herrschte aber jahrzehntelang Schweigen in seiner Familie.
Hofmann hat das Gefühl, erst am Anfang seiner Recherche zu stehen. "Je mehr Informationen ich sammele, desto erleichternder ist es für mich", sagt er. Trotzdem: Ohne sich selbst in Sippenhaft nehmen zu wollen, sei diese Vergangenheit schon belastend für ihn. Oft nagt auch die ungute Ahnung an ihm, der Wohlstand seiner Familie könne durch "Arisierung", also Zwangsenteignung jüdischen Eigentums, bedingt sein.
Inzwischen hat Hofmann die Enkelin des Mannes getroffen, den sein Großonkel erschossen hat. Vor kurzem hat er angefangen, die Vergangenheit seines Großvaters zu durchforsten. Für ihn ist es wichtig, das schwarze Loch in seiner Familiengeschichte auszuleuchten - und in jeden Winkel zu schauen.