"Wie komme ich hier raus?"
20. April 2017Die Aufregung um den hoch emotionalen Wahlkampf in der Türkei und den Streit um die Wählerstimmen in Deutschland hat sich nicht gelegt, es gibt den Vorwurf der Wahlmanipulation. Das Referendum ist nur äußerst knapp ausgefallen: 51,4 Prozent der Türken haben für "Ja" gestimmt und damit für die Ausweitung der präsidialen Macht von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Bei den in Deutschland lebenden Türken (1,43 Millionen) stimmten 63 Prozent dafür. Die Polarisierung hat das kulturelle Klima in der Türkei und in Deutschland längst beeinflusst, sagt auch Cigdem Akyol, Journalistin und Autorin einer aktuellen Erdogan-Biografie.
DW: Frau Akyol, auf der Titelseite der BILD-Zeitung war jetzt eine dicke Schlagzeile zu lesen: 'Deutschtürken verhelfen Erdogan zum Sieg.' Wird da Stimmung auf deutscher Seite gemacht? Wie beurteilen Sie das?
Cigdem Akyol: Ich finde diese Schlagzeilen, wie sie jetzt nach dem Referendum in einigen deutschen Medien stattfinden, schwierig. Dass die Deutschtürken nicht integriert sind, das stimmt einfach so nicht. Ich kenne AKP-Wähler in Deutschland, die leben in einer deutschen Reihenhaus-Siedlung, mit Haustieren und die Rasenkanten zurechtgestutzt mit der Nagelfeile. Also wirklich deutsches Kleinbürgertum, wie man sich das nur vorstellt. Das sind Menschen, die auch teilweise in Deutschland geboren wurden. Und die das Grundgesetz achten und keinerlei Schwierigkeiten mit ihrer deutschen Identität haben, aber AKP-Wähler sind.
Das heißt, zu behaupten, dass jeder, der die AKP wählt, nicht in Deutschland angekommen sei, ist purer Populismus. Das stimmt schlicht und ergreifend nicht. Man muss sich halt fragen, was hat die deutsche Mehrheitsgesellschaft eigentlich nicht mitbekommen? Wir erinnern uns alle an Helmut Kohl, der 16 Jahre als Bundeskanzler gesagt hat: 'Wir sind kein Einwanderungsland.' Und das ist bei den Menschen, Türken wie Deutschen, hängengeblieben.
Da muss man ergänzen, dass es auch die umgekehrte Variante von Christian Wulff gab, der 2010 offiziell in einer Rede als deutscher Bundespräsident gesagt hat: 'Der Islam gehört zu Deutschland.' Hat das nichts verändert? Und ist der Satz von Kohl nicht längst Geschichte?
Nein, das ist er nicht. Viele Deutschtürken haben nach wie vor das Gefühl, egal was sie machen, dass es nicht ausreicht, dass sie trotzdem nicht anerkannt werden - egal wie gut sie sind, in ihrer Laufbahn, in ihren Jobs etc.. Und dieses Gefühl ist teilweise auch berechtigt, das muss man fairerweise auch dazu sagen. Es gibt Studien, die haben festgestellt: Wenn sich jemand mit Kopftuch bewirbt oder mit einen Namen wie Ali beispielsweise, dass der es wesentlich schwerer hat, als jemand der Heidi heißt und blonde Haare hat. Das ist schlicht und ergreifend die Realität. Und dieses Gefühl fruchtet vor allem bei den Menschen, die dann vielleicht auch bildungsferner sind. Und die in ihrer Identität vielleicht nicht so stark sind.
Umfragen in der Türkei haben ermittelt, dass mehr als zwei Drittel der befragten Türken nicht genau wussten, worüber sie abgestimmt haben. Wie haben Sie das bei den Türken, die in Deutschland leben, erlebt? War es da auch so, dass viele nicht so genau wussten, was sie mit einem 'Ja' beantworten?
Ich nehme an, dass die Deutschtürken wussten, was sie mit ihrem 'Ja' auslösen könnten oder auch auslösen. Aber sie wissen oft nicht, wie es sich anfühlt, damit in der Türkei zu leben. Sie können zwar hin- und her reisen, aber sie wissen nicht, was es heißt, dauerhaft in einem autokratischen System zu leben. Und deswegen haben viele mit einem 'Ja' gestimmt.
Wie würden Sie das Lebensgefühl in der Türkei und auch das Kulturklima dort für jüngere Deutschtürken übersetzen, bzw. deren Haltung dazu erklären - als jemand der als Journalistin beide Länder aus dem politischen Alltag kennt?
Mit mangelnder Vorstellungskraft für die Situation der Ausgegrenzten. Tatsache ist, dass wir in der Türkei ein Klima der Angst haben. Tatsache ist, dass die Luft zum Atmen für viele immer dünner wird, vor allem für Regierungskritiker. Viele Deutschtürken können sich das nicht vorstellen, wie sich das anfühlt.
Wir sind in Deutschland an demokratische Grundregeln gewöhnt, an Pressefreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung. Was vermuten Sie, was für ein Kulturklima jetzt nach dem Referendum in der Türkei entstehen wird?
Es ist nicht davon auszugehen, dass Erdogan in nächster Zeit mäßigender wird oder diplomatischer - ganz im Gegenteil. Er hat ja nur 51 Prozent der Stimmen bekommen. Und die hat er nur bekommen, indem er massiv die türkischen Medien manipuliert hat, indem er Oppositionelle hat verhaften lassen, und weil, so heißt es, auch Wahlfälschung stattgefunden hat.
Da gibt es auch Zweifel an der richtigen Durchführung der Wahl. Das heißt, er hätte noch weniger Stimmen bekommen, wenn all das nicht stattgefunden hätte. Erdogan hat erkannt, dass der Zenit, auf dem er steht, längst am bröckeln ist. Und deshalb muss er seine Macht noch stärker untermauern. Und das wird er machen, indem er noch stärker gegen Kritiker und Minderheiten vorgehen wird.
Sie sind die Autorin einer sehr aufschlussreichen Biografie über Erdogan, einer nicht autorisierten muss man dazu sagen. Wie schätzen Sie den Stellenwert dieses Referendums ein? Ist das für ihn nur ein Etappensieg oder ist das das Ziel gewesen?
Das Ziel war es noch nicht. Das Ziel ist ein anderes: 2019 will er immer noch als Staatspräsident regieren, denn da feiert die Türkei ihr 100-jähriges Bestehen. Und er will in einem Atemzug mit dem Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk genannt werden.
Das jetzt war ein schlapper Etappensieg, denn Erdogan hat erkennen müssen, dass er diese 51 Prozent nur mit massiver Manipulation erreichen konnte. Und dass Millionen Menschen in der Türkei nicht hinter ihm stehen. Es ist ja so, dass er im Vorfeld im Wahlkampf gesagt hat, dass alle 'Nein'-Sager Terroristen seien. Das heißt, der Mann steht jetzt in seinem Land Millionen potentieller Terroristen gegenüber. Und die muss er jetzt irgendwie in Schach halten. Und dass er das nicht mit demokratischen Mitteln machen wird, das ist absehbar.
Wie ist derzeit die Stimmung bei Kulturschaffenden in der Türkei, bei den Schriftstellern, den Schauspielern, den Musikern? Kunst und Kultur leben ja von der Freiheit des Wortes und der Ideen?
Die Stimmung ist schlecht, denn die Freiheit des Wortes ist nicht mehr gegeben in der Türkei. Die Freiheit der Ideen beschränkt sich mehr und mehr auf die eigenen vier Wände. Man muss davon ausgehen, wenn man sich außerhalb kritisch äußert, dass das ernsthafte Konsequenzen haben kann, wie Gefängnis oder die Abnahme des Passes. Das heißt, man kann seit langer Zeit nicht mehr frei arbeiten. Und deshalb ist unter den Intellektuellen in der Türkei, unter den Schriftstellern und kritischen Journalisten eines der Hauptthemen: Wie kann ich dieses Land verlassen? Was gibt es für Möglichkeiten? Wie komme ich hier raus?
Çiğdem Akyol ist deutsche Journalistin mit türkisch-kurdischen Wurzeln, geboren 1978 in Herne im Ruhrgebiet. Sie hat an der Universität Köln Slawistik und Völkerrecht studiert und arbeitet für verschiedene Medien, u.a. als Korrespondentin für die österreichische Nachrichtenagentur apa, die deutsche taz und FAZ sowie Zeit Online. 2017 erlang sie mit ihrem Sachbuch "Erdogan. Die Biografie" große Aufmerksamkeit in den Medien. Sie lebt und arbeitet in Istanbul.
Das Gespräch führte Heike Mund.