"Als Hilfskraft der Eliten vorgesehen"
28. April 2016DW: Frau Akyol, warum verschwendet ein Mann, der als Staatspräsident einem Volk mit über 75 Millionen Menschen vorsteht, seine Zeit damit, Journalisten zu verfolgen?
Cigdem Akyol: Recep Tayyip Erdogan ist höchstsensibel, was Kritik anbelangt. Er ist niemand, der sich selbst hinterfragt, er ist niemand, der zurückschaut, der seine eigenen Fehler durchleuchtet. Er duldet es schlicht nicht, dass ihn irgendjemand kritisiert. Das gleicht für ihn einer Majestätsbeleidigung. Genau das haben wir im Fall Jan Böhmermann beobachten können.
Hat er keine Berater, die ihm zur Seite springen und sagen: Stopp, jetzt reicht es?
Die Berater, die er hat, sind alles Abnicker und Jasager. Erdogan hat sich ein System geschaffen, in dem er nur noch von Menschen umgeben ist, die ihm absolut wohlwollend gesinnt sind, die ihm keine Widerworte entgegenbringen und die nur noch das ausführen, was er als Staatspräsident befiehlt. Früher gab es noch Kritiker in der AKP. Diese wurden jedoch über die Jahre weggedrängt. Mittlerweile herrscht auch innerhalb der AKP ein System der Angst und der Mitläufer. Die Menschen wissen ja, was ihnen blüht, wenn sie sich gegen ihn auflehnen, ihn kritisieren.
Woher kommt dieser Charakterzug?
Das liegt an der Vita Tayyip Erdogans. Er ist in einem Armenviertel groß geworden, Erdogan gilt als sogenannter "schwarzer Türke", er kommt also aus der sogenannten Unterschicht und hat sich emporgearbeitet. Es ist eine sehr eindrucksvolle Karriere, die er hingelegt hat. Er hat sich gegen das kemalistische System, gegen alle Widerstände durchgesetzt. Er hat einen Ehrgeiz entwickelt, den nur ein Außenseiter haben kann. Und dieser Ehrgeiz hat sich in einen Charakterzug verwandelt, der gar nicht zulässt, dass er auch mal in Ruhe die Dinge betrachtet. Erdogan blickt nur nach vorne, er will immer mehr Macht anhäufen, ein Präsidialsystem mit umfassenden Vollmachten. Seine Rücksichtslosigkeit, seine Nicht-Fähigkeit zur Kritik kommt auch daher. Momentan richtet er alles auf 2023 ab. In dem Jahr feiert die Türkei ihr einhundertjähriges Bestehen. Erdogan will sich selbst ein Denkmal setzen und dann immer noch Präsident sein. Das ist durchaus möglich, und dann würde er im gleichen Atemzug mit Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk genannt werden.
Sie sprechen die Kemalisten an. War so jemand wie Tayyip Erdogan im politischen System der Türkei vorgesehen?
Nein. So jemand wie Tayyip Erdogan war über Jahrzehnte hinweg überhaupt nicht vorstellbar. So jemand war eigentlich nur dafür vorgesehen, als Hilfskraft die Häuser der Elite, der "weißen Türken", zu putzen. Es war nicht vorgesehen, dass jemand wie er jemals Macht haben würde. Deshalb ist seine Karriere umso historischer.
Führt er gerade einen Rachefeldzug gegen das alte Establishment?
Es ist mitunter ein Rachefeldzug gegen das Establishment, und es ist die Rückzahlung für all die zahlreichen Demütigungen, die er erleiden musste.
Ist es diese Kämpfernatur, die die Leute an ihm fasziniert?
Mit Sicherheit. Erdogan hat sich dabei sehr clever verhalten. Er ist 2003 zum ersten Mal zum Ministerpräsidenten berufen worden, und er hat zuvor etwas gemacht, was über Jahrzehnte verpasst worden war. Er hat die Masse der Bevölkerung, er hat die "schwarzen Türken" angesprochen. Er hat so getan, als ob er mit ihnen auf Augenhöhe wäre. Er hat ihnen suggeriert, dass er, ein Mann aus dem Volk, den Unterdrückten endlich eine Stimme gibt. Das trägt ganz stark zum Mythos Erdogan bei. "Einer von unten" hat es nach ganz oben geschafft. Viele sagen sich: "Wenn er das schaffen kann. Dann kann ich das auch irgendwann schaffen."
Sie sagen: Er hat so getan. Stimmt das nicht?
Zu Beginn seiner Amtszeit 2003 mag das noch gestimmt haben. Mittlerweile hat er mit dem Volk gar nichts mehr zu tun. Wir brauchen uns nur den Palast in Ankara anzuschauen, einen Bau mit über 1100 Zimmern. Dass das nichts mehr mit Volksnähe zu tun hat, erklärt sich hier eindrucksvoll von selbst.
Wenn man sich Wahlkampfveranstaltungen oder öffentliche Auftritte ansieht: Da feiern ihn die Menschen. Ist Tayyip Erdogan ein Popstar in der Türkei?
Tayyip Erdogan war ein Popstar in der Türkei, er war ein Hoffnungsträger. Er hat auch ganz viele Reformen angestoßen - eine Sache, die auch in Deutschland gerne mal übersehen wird. Er hat die Türkei vor die Tore der EU geführt, er hat - das kann man sich ja gar nicht mehr vorstellen - die Pressefreiheit ausgeweitet, er hat die Frauenrechte ausgeweitet. Er hat das Gesundheitssystem, er hat das Sozialsystem reformiert. Das haben alle Regierungen vorher versäumt. Dafür haben ihn die Leute lange gefeiert. Inzwischen aber ist dieser Mythos verblasst. Dafür ist auch zu viel Hässliches, zu viel Ungutes geschehen. Allerdings gibt es keinen anderen Politiker im Land, der es mit Erdogan aufnehmen könnte. Es gibt schlicht keine Alternative zu seiner Person.
Tayyip Erdogan tritt auch in Deutschland öffentlich auf. Auf diesen Veranstaltungen trifft man auf Deutsche, die sagen, Tayyip Erdogan hätte "die Türkei", hätte "sie" wieder stolz gemacht. Wie ist das zu erklären?
Viele Deutschtürken sind mit dem Herzen immer noch sehr stark mit der Türkei verbunden, identifizieren sich im Zweifel viel stärker mit der Türkei als mit Deutschland. Man musste über Jahrzehnte hinweg als "Türke" erleben, dass man in Deutschland nicht willkommen war. Und dann kam dieser charismatische Ministerpräsident und hat den Menschen endlich wieder ihren Nationalstolz zurückgegeben. Das darf man nicht unterschätzen. Nationalismus ist eine ganz große Triebfeder in der Türkei. Erdogan hat sich an diese Menschen gewandt und gesagt: "Ihr seid meine Bürger". "Ich setze mich für Euch ein". "Ihr müsst Euch nicht schämen." Und damit fängt man natürlich Seelen und Stimmen ein.
Die Journalistin Cigdem Akyol beschäftigt sich seit Jahren mit Tayyip Erdogan. Gerade hat sie eine Biopgraphie über den türkischen Staatspräsidenten veröffentlich.
Das Gespräch führte Daniel Heinrich.