Erdogan: Reformer, Radikaler, Pragmatiker
20. Juni 2018Der türkische Staatspräsident gilt seinen Kritikern als kaltblütiger Autokrat. Als ein Staatschef, der zielstrebig seine Macht ausbaut, Widersacher als Terroristen diffamiert und ins Gefängnis werfen lässt. Doch der frisch gewählte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hatte im Jahr 2003 ein ganz anderes Image. Damals galt er als Reformer und Hoffnungsträger. Gleich nach seinem Wahlsieg begann er damit, sein Land an die EU heranzuführen. Dazu bekämpfte er die Korruption, schaffte die Todesstrafe ab, stärkte Bürgerrechte und Autonomierechte der Kurden und modernisierte die Wirtschaft. Bei einem "Spiegel"-Interview zeigte sich, wie entschlossen Erdogan sein Ziel verfolgt, die Türkei in die EU zu führen:
"Das einzige Verhandlungsziel, das wir akzeptieren, ist die Vollmitgliedschaft. Die Türkei ist auf dem Weg, ein EU-Mitglied zu werden - und dieser Weg ist unumkehrbar." (Oktober 2004, "Spiegel")
Aber nicht jeden überzeugte er mit dieser EU-Begeisterung. Schon damals hielten ihn Skeptiker in Westeuropa für einen politischen Wolf im Schafspelz. Schließlich nutzte Erdogan die Reformen auch, um die Macht der alten säkularen Eliten zu beschneiden. War seine EU-freundliche Haltung nur ein geschicktes Manöver? Verfolgte Erdogan nicht in Wirklichkeit eine islamistische Agenda? Zumindest eine Aussage aus seiner Zeit als Istanbuler Bürgermeister deutet darauf hin:
"Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.” (1997, "Hürriyet")
Für diese Aussage als Bürgermeister von Istanbul wurde Erdogan 1999 zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der Haft schien er wie geläutert und zum pro-europäischen Reformer gewandelt. Vor allem Deutschland unter der rot-grünen Bundesregierung von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) unterstützte Erdogan und seinen Kurs.
Dagegen setzte Nachfolgerin Angela Merkel auf eine sogenannte privilegierte Partnerschaft. Die Verhandlungen zum EU-Beitritt schleppten sich ab 2005 dahin, weil Deutschland und Frankreich sie verzögerten - und dadurch die Reformen in der Türkei stockten. Erdogan wandte sich in der Folge verstärkt den Nachbarländern zu und betreibt bis heute eine zunehmend neo-osmanische Außenpolitik.
Die kulturellen Wurzeln des Osmanischen Reichs sollten wieder gepflegt werden, ehemaliges Staatsgebiet wurde als türkische Einflusszone definiert. Gleichzeitig sollen aber auch die Beziehungen zum Westen und Europa aufrechterhalten werden. Wie sich bei einem Interview mit der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" zeigte, sah er sich von nun an als Vermittler zwischen den Welten:
"Es geht um unser strategisches Ziel 'Null Probleme mit den Nachbarn', und dafür haben wir eine Vorreiterrolle bei der regionalen Integration übernommen." (2011, "Hannoversche Allgemeine Zeitung")
Beim Arabischen Frühling bot sich die Gelegenheit, in Syrien, Tunesien und Ägypten seine "Null-Problem-Politik" in die Praxis umzusetzen. Die türkische Regierung stellte sich auf die Seite der Demonstranten und warb für das türkische Modell, das es - so Erdogan - ermöglicht, Islam und Demokratie miteinander zu vereinen. Doch diese Politik blieb erfolglos, neue Bündnisse für die Türkei folgten daraus nicht. Erdogan verschärfte anschließend seine Rhetorik und konzentrierte sich auf das Ziel eines möglichst starken Nationalstaates - in Abgrenzung zum Ausland:
"Jene, die von außen in die islamische Welt kommen, mögen Öl, Gold und Diamanten, sie mögen billige Arbeitskräfte, und sie mögen Zwist und Streit. Glaubt mir, sie mögen uns nicht. Sie sehen wie Freunde aus, aber sie wollen uns tot sehen." (November 2014, "Hürriyet")
Auch in Deutschland machte sich Erdogans Nationalismus zunehmend bemerkbar. Durch markige Aussagen und Auftritte versucht er seit Jahren, Deutschtürken für sich zu gewinnen:
"Man nennt euch Gastarbeiter, Ausländer, Deutschtürken. Aber egal, wie euch alle nennen: Ihr seid meine Staatsbürger, ihr seid meine Leute." (Februar 2011, "Spiegel")
Erdogan lässt kaum eine Gelegenheit aus, die vermeintlichen Feinde der Türkei zu attackieren. Besonders mit der Bundesregierung hat er sich völlig überworfen. Mehrere deutsche Staatsbürger wurden unter Vorwänden inhaftiert. Hinzu kamen Entgleisungen und Ausfälle in Richtung Berlin. Während des Wahlkampfs für das Verfassungsreferendum vor einem Jahr blockierten ein paar deutsche Kommunen Wahlkampfauftritte türkischer Minister. Erdogan war außer sich:
"Wir wollen die Nazi-Welt nicht mehr sehen. Nicht ihre faschistischen Taten. Wir dachten, dass diese Ära vorbei wäre, aber offenbar ist sie es nicht." (März 2017, Deutsche Welle)
Sollte Erdogan die Wahlen jetzt gewinnen, so könnte er mit der präsidentiellen Verfassung im Rücken Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei weiter aushöhlen - und sich so weiter von der EU entfernen. Die Europäische Union hatte er schon häufiger als vermeintlichen "Christenclub" geschmäht. In einem Interview mit der BBC wurde seine persönliche Kränkung deutlich:
"Nachdem ich Ministerpräsident geworden war, hieß es auf den EU-Gipfeln: Die Türkei vollzieht eine stille Revolution. Heute laden sie uns zu den Gipfeltreffen nicht einmal mehr ein." (Juli 2017, BBC)
Doch Erdogan ist auch bekannt für seinen Pragmatismus. Wer Freund ist und wer Feind, wechselt bei ihm je nach Weltlage und Stimmung. Und so halten Beobachter es für möglich, dass Erdogan gegenüber Europa bald wieder versöhnliche Töne anschlägt. Schließlich wäre seine Macht bei einem Wahlsieg so abgesichert, dass er weniger auf Nationalismus und Polarisierung setzen müsste. Das wäre dann eine weitere Volte auf dem politischen Weg des Recep Tayyip Erdogan.