Erdogan und der Ernst der Lage
14. Januar 2016Am deutlichsten sagt es der Sozialdemokrat Karl-Heinz Brunner: Ja, Erdogan verfolge die Kurden und trete die Meinungsfreiheit mit den Füßen, "niemand in diesem Haus zweifelt daran". Aber er zweifle daran, dass die Linke den Ernst der internationalen Lage wirklich verstanden habe.
In einer von ihr beantragten "Aktuellen Stunde" will die Linke ihre scharfe Kritik an der deutschen Zusammenarbeit mit der Türkei auf die Bühne des Bundestages bringen. Ausgerechnet kurz nach dem Attentat auf deutsche Touristen in Istanbul und nachdem Bundesinnenminister Thomas de Maizière dort verkündet hatte, dass Deutschland und die Türkei im Kampf gegen den Terrorismus "noch enger zusammenrücken".
Krieg gegen die Kurden statt Grenzsicherung
Die Abgeordnete Sevim Dagdelen listet die Sünden Erdogans aus Sicht der Linken auf: Den Krieg gegen die Kurden. Die Versorgung des IS mit Waffen. Die Inhaftierung des Chefredakteurs der Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar, weil er Dokumente über Waffenlieferungen an den IS via Türkei veröffentlicht hatte. Die jüngsten Drohungen des türkischen Präsidenten an über 1000 Akademiker, weil sie einen Appell zur Deeskalation des Kurdenkonflikts unterzeichneten. Die angebliche Unfähigkeit, die Grenze zu Syrien zu schließen, damit die Versorgung des IS gestoppt wird. Dagdelen fragt: Die zweitgrößte Armee der NATO sei nicht in der Lage, das zu schaffen? Es gehe nicht um 1000 Kilometer, wie Erdogan behaupte, sondern nur um 100 Kilometer, sagt Dagdelen und lädt die Abgeordneten ein, sich mit ihr vor Ort zu überzeugen.
Die Linken und auch die Grünen fordern vor allem den sofortigen Stopp aller deutschen Waffenlieferungen an die Türkei und auch an Saudi-Arabien. Die Grünen-Politikerin Claudia Roth nennt Berlins Verhalten gegenüber der Menschenrechtssituation in der Türkei das "laute Schweigen". Die Türkei und die Machthaber in Riad gehören für die Opposition auf die Anklagebank - und mit ihnen natürlich die Bundesregierung.
Die Region als Interessengebiet Deutschlands
Für den SPD-Abgeordneten Brunner zeigt die Linke dagegen nur ihre Doppelzüngigkeit, weil sie Russland und Iran mit ihrer Kritik verschone. Außerdem sei "Abschottung, Isolation und der Abbruch von Kontakten das Gegenteil von dem, was wir jetzt brauchen". Ähnlich sieht das der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter und erklärt, wie komplex die Lage in der Region sei. Mit der bevorstehenden Implementierung des Atomabkommens mit dem Iran werde Teheran auf einen Schlag über 70 Milliarden US-Dollar auf bisher gesperrten Konten verfügen. Der Iran werde damit weiterhin Nachbarschaftskonflikte wie im Jemen schüren, gemäßigte Rebellengruppen bekämpfen und Assad stützen. Man müsse darauf achten, dass die Situation in dieser Region, die zum Interessengebiet Europas und Deutschlands gehöre, nicht durch Russland und Iran bestimmt werde. Kiesewetter warnt außerdem davor, das Land Saudi-Arabien, gegen das seit den Massenhinrichtungen nicht nur bei Linken und Grünen Kritik laut wird, und den "erprobten NATO-Partner Türkei" in einen Topf zu werfen. Immerhin räumt der CDU-Politiker ein, müsse man auch auf Ankara "Einfluss nehmen mit Blick auf das Verhalten gegenüber den Kurden" und mit der Türkei "einiges im Bereich der IS-Unterstützung klären ".
"Sonst bleibt nur noch Luxemburg"
Die Türkei, aber auch Saudi-Arabien, so wird in der Bundestagsdebatte klar, sind aus der Sicht der Bundesregierung trotz aller "Sünden" weiterhin sogenannte "Stabilitätsanker" in der Region, ob es der Opposition passe oder nicht. Der Linken-Außenpolitiker Wolfgang Gehrke geißelt deshalb das Verhältnis Berlins zu den Partnern in Ankara und Riad mit einem Wort des früheren US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt über sein Verhältnis zu Nicaraguas berüchtigten Diktator Somoza: "Er mag ein Hurensohn sein, aber er ist unser Hurensohn."
Kanzlerin Merkel hatte bereits am Mittwoch im Verteidigungsausschuss des Bundestages nach Agenturangaben erklärt, man sei bei den Bemühungen um eine Friedenslösung für Syrien auf Saudi-Arabien angewiesen. Außenminister Steinmeier begegnete am gleichen Tag der Kritik an einem geplanten Besuch in Riad mit Ironie: "Wenn ich mit allen Ländern nicht mehr sprechen würde, deren Politik wir nicht teilen, dann hätte ich in der Tat mehr Zeit, unsere prima Beziehungen zu Luxemburg zu pflegen."