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Erdogans Sieg: Auftrag zum Ausgleich?

Bernd Grässler2. November 2015

Die Bundesregierung lobt die Türkei für die "friedlichen" Wahlen. Die Opposition spricht von einem "Ausnahmezustand", der den AKP-Sieg begünstigte. Nun drängen Deutschland und Europa Präsident Erdogan zur Versöhnung.

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Türkei Wahlerfolg Erdogan Unterstützer Symbolbild
Bild: picture-alliance/AA/Turkish Presidency/Y. Bulbul

"Wir begrüßen, dass die gestrigen Parlaments-Wahlen in der Türkei friedlich abgelaufen sind", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Die sehr hohe Wahlbeteiligung unterstreiche, wie sehr das türkische Volk der Demokratie verpflichtet sei. In der Türkei besteht zwar Wahlpflicht, doch die Strafe für Nichtteilnahme ist sehr gering.

Merkels Sprecher nannte die Bekämpfung des IS, den Konflikt mit den Kurden, die innenpolitische Polarisierung und die Bewältigung der Auswirkungen der Syrienkrise als Herausforderungen, vor denen die Türkei stehe. Es komme darauf an, diese "im Geist der nationalen Einheit und der Kompromissbereitschaft" anzugehen, wie das Ministerpräsident Ahmed Davutoglu in der Wahlnacht angedeutet habe. Die Bundesregierung sei selbstverständlich daran interessiert, dabei eng mit Ankara zusammenzuarbeiten.

Eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes erklärte, es habe "positive Geräusche" gegeben vom AKP-Spitzenkandidaten Davutoglu. Das gebe Hoffnung, dass man bei dem ins Stocken gekommenen Friedensprozess mit den Kurden und in der Flüchtlingsfrage vorankomme. Es werde ein drittes Treffen in dem von Außenminister Steinmeier initiierten "Migrationsdialog" mit der Türkei geben.

Deutschland Regierungssprecher Steffen Seibert
Regierungssprecher Seibert mahnt Versöhnung anBild: picture-alliance/dpa

Der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Bundestag, Thomas Oppermann, zeigte sich überrascht von der absoluten Mehrheit für die AKP und ermahnte Präsident Recep Tayyip Erdogan, sorgsam damit umzugehen.

Auftrag zum Ausgleich

Der Präsident des Europaparlaments Martin Schulz, ebenfalls Sozialdemokrat, sagte der DW, die AKP habe mit dem Wahlsieg auch den Auftrag bekommen, für Ausgleich und innere Stabilität zu sorgen. Die Türkei sei tief gespalten, sowohl die AKP als auch die Opposition hätten jeweils etwa die Hälfte der Stimmen bekommen.

Für die oppositionellen Linken und Grünen ist dagegen das Wahlergebnis längst nicht abgehakt. Die türkischstämmige Linken-Politikerin Sevim Dagdelen erklärte gegenüber der DW, sie wisse von vielen Wahlbeobachtern, dass es insbesondere in den kurdischen Stimmbezirken Behinderungen gab.

So seien in der kurdischen Stadt Cizre, die jüngst von der Armee gestürmt wurde, vierzig Autos auf dem Weg zur Stimmabgabe wegen einer "Minenwarnung" aufgehalten worden. Die Insassen hätten ihre Stimmen nicht abgeben können. Polizei und Militär hätten Menschen gezwungen, offen statt geheim zu wählen.

Außerdem seien von staatlichen Medien bereits vorzeitig Wahlergebnisse veröffentlicht worden, die laut Wahlbeobachtern nicht dem Stand der Auszählung entsprachen. Dagdele beklagte, dass Erdogans Kalkül zur Rückeroberung der absoluten Mehrheit anscheinend aufgegangen sei.

Durch eine Strategie der Spannungen, ein Klima der Angst und Einschüchterung sowie durch die Aufkündigung des Friedensprozesses mit den Kurdenhabe Erdogan Stimmen erobert, sagte die Bundestagsabgeordnete der Linken. Sie freue sich aber, dass die Kurdenpartei HDP trotz Repressionswelle den Wiedereinzug ins Parlament geschafft habe.

Sevim Dagdelen MdB Die Linke
Linkenpolitikerin Dagdelen: Kritik an BehinderungenBild: picture-alliance/dpa/K. Schindler

Grünenchef erwartet Türkei-Flüchtlinge

Der Grünen-Politiker Omid Nouriour sagte dem Türkischen Programm der DW, man müsse erst die Berichte der internationalen Wahlbeobachter abwarten. Durch einen unverantwortlichen Wahlkampf der AKP habe eine Art Ausnahmezustand in der Türkei geherrscht. Es gebe Leute im Präsidentenpalast, "die mutwillig in Kauf nahmen, dass das Land in Richtung Bürgerkrieg rutscht, Hauptsache, sie haben dadurch eine Wahl gewonnen".

Grünen-Chef Cem Özdemir befürchte sogar eine Welle von Flüchtlingen aus der Türkei nach Deutschland. Der türkischstämmige Politiker sagte in einem Rundfunkinterview, man können denen ja schlecht verdenken, nicht gern in einem Land leben zu wollen, das Erdogan zunehmend in eine Art Putin-Regime verwandele. Mitschuldig sei auch die Bundesregierung, weil Kanzlerin Merkel mitten im Wahlkampf Erdogan in der Türkei besucht habe.

Mehrheit für AKP unter Deutschtürken

Die Türkische Gemeinde in Deutschland hat die hier lebenden Gegner und Anhänger der AKP aufgerufen, ihre Meinungsverschiedenheiten friedlich auszutragen. In Stuttgart hatte es in der Wahlnacht Auseinandersetzungen gegeben, als Vermummte einen Autokorso von AKP-Anhängern mit Steinen bewarfen.

Die AKP hatte unter den 2,9 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland fast 60 Prozent der Stimmen erhalten, berichtete die Nachrichtenagentur Anadolu. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, sagte dazu, die von der AKP angepackten Infrastrukturprojekte hätten offenbar eine größere Rolle gespielt als ihre "mangelhafte" Menschenrechtspolitik.