Erdogans zweifelhafter Wirtschaftsboom
5. Januar 2018Vorsichtig balanciert Murat Aktepe das Tablett mit den bauchigen Teegläsern. Seit vier Monaten arbeitet er als Aushilfskellner in einem Café im Istanbuler Galata-Viertel. Dass er mal andere bedienen würde, hätte sich Aktepe nicht träumen lassen. Noch im Sommer gehörte dem 43-Jährigen ein kleines Hotel - dort war er der Boss. Doch die Krise hat ihm zugesetzt. Er ging Pleite und musste schließlich verkaufen.
"Es ist ein schlimmes Gefühl, so abzustürzen. Mir kommt es vor, als lägen Welten zwischen meinem damaligen und meinem jetzigen Leben", sagt Aktepe. Er habe sein Selbstvertrauen, seinen Stolz verloren. "In meinem Hotel hatte ich vor allem Gäste aus Europa, aber seit zwei Jahren kommen ja kaum noch Europäer hierher - ich habe irgendwann nur noch Verluste gemacht."
Unsicherheit schadet der Wirtschaft
Wie Murat Aktepe geht es vielen türkischen Geschäftsleuten. Auf der Istiklal - Istanbuls Haupteinkaufsstraße, auf der immer das Leben tobt - kann man inzwischen zusehen, wie die Geschäfte sterben: Viele Ladentüren sind verriegelt. "Kiralık" - "Zu vermieten" steht auf Plakaten. Inzwischen können auf der Shoppingmeile nur noch große Mode- und Restaurantketten überleben.
Eines der Hauptprobleme sei die verbreitete Unsicherheit, sagt der Ökonom Attila Yeşilada. "Die Leute haben die Nase voll vom Ausnahmezustand, sie schieben Investitionsvorhaben immer weiter auf". Der Ausnahmezustand gilt seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, für den die türkische Regierung den in den USA lebenden Prediger Fetullah Gülen verantwortlich macht. Seitdem sind die Beziehungen zu Washington, aber auch zu Europa, angespannt - Investoren ziehen sich zurück. Dazu kommt ein Mammutprozess um illegale Geschäfte zwischen der Türkei und dem Iran, in dem jetzt ein türkischer Banker von einem New Yorker Gericht schuldig gesprochen wurde. In diesem auch politisch heiklen Verfahren drohen mehreren türkischen Geldhäusern Milliardenstrafen.
"Die AKP war mal die Partei der Hoffnung für viele. Sie hatten eine Vision - auch für die wirtschaftliche Zukunft dieses Landes", sagt Atilla Yeşilada. "Jetzt ist sie die Partei der Angst. Was ihre Wähler eint, ist die Furcht vor dem Westen, vor den Gülenisten und der PKK - das ist keine gute Grundlage, um das Land nach vorne zu bringen".
Die Lira verliert, der Frust wächst
Die Inflation in der Türkei ist auf dem höchsten Stand seit 14 Jahren, die Lira immer weniger wert - obwohl die türkische Zentralbank erst kürzlich die Zinsen erhöht hat. 4,60 Lira kostet ein Euro inzwischen. Vor einem Jahr lag der Wechselkurs bei noch etwa 3,70 Lira, vor zehn Jahren bei zwei Lira. Viele Türken frustriert das. "Vor nicht allzu langer Zeit konnten wir für eine halbe Lira Brot kaufen, inzwischen zahlen wir zwei Lira dafür", klagt ein Fußgänger auf der Istiklal-Straße. "Wir haben jeden Tag weniger Geld in der Tasche - und das, weil die Politik jahrelang Fehler gemacht hat. Ich denke, es wird noch schlimmer und wir einfachen Leute bezahlen am Ende den Preis dafür", beschwert sich ein anderer. "Ich bin Rentner und muss trotzdem noch arbeiten, damit ich über die Runden komme", klagt ein älterer Mann und eine junge Mutter sagt: "Früher sind wir oft ins Restaurant gegangen, aber inzwischen ist das Luxus geworden für uns."
Imposante Zahlen, nichts dahinter?
Viel Unmut also - dabei geht es der türkischen Wirtschaft laut offiziellen Angaben sehr gut. In Istanbuls Finanzdistrikt wachsen dank staatlicher Investitionen die Wolkenkratzer in die Höhe. Wegen der schwachen Lira sind auch die Exporte gestiegen. Um 11,1 Prozent sei die türkische Wirtschaft im dritten Quartal 2017 gegenüber dem Vorjahr gewachsen, meldete kürzlich die Statistikbehörde TurkStat. Präsident Erdoğan spricht von einem Wirtschaftswachstum von bis zu sieben Prozent im gesamten vergangenen Jahr - kaum ein EU-Land kann da mithalten.
"Eine starke Wirtschaft braucht einen starken Staat", sagte Erdoğan im November auf einem Treffen der Handelskammer von Ankara (ATO). "Wir wachsen trotz aller Probleme und unser Ziel ist es, bald zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt zu gehören".
Der Ökonom Attila Yeşilada ist angesichts solcher Erfolgsmeldungen skeptisch. "Der türkischen Wirtschaft geht es besser als 2016, aber lange nicht so gut wie die Statistiker uns Glauben machen wollen", sagt er. Seiner Ansicht nach ist das türkische Wunder auf Sand gebaut. "Ja, wir haben einen Boom bei Bauprojekten. Sie sehen ja selbst, wie Istanbul mit immer neuen Wolkenkratzern zugepflastert wird", sagt Yeşilada. "Aber das sind tote Investments. Die steigern nicht die Produktivität. Das ist alles nicht nachhaltig".
"Tote Investments" und Schuldenberge
Laut Yeşilada müsste der Staat dringend das Wachstum drosseln und stattdessen die Inflation und die Auslandsverschuldung in den Griff bekommen. Denn die liegt bei mehr als der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts, meldete das Finanzministerium im Herbst - und damit so hoch wie seit 2003 nicht mehr.
"Ich hatte einmal viel Vertrauen in die türkische Wirtschaft, es herrschte Aufbruchsstimmung. Aber jetzt trauen sich viele Leute nicht mehr, ein Geschäft auszubauen. Sie haben Angst, ihr Geld zu verlieren", sagt Ex-Hotelier Murat Aktepe. "Und so lange die Menschen Angst haben, wird sich die Wirtschaft nicht erholen".
Nach seiner Schicht im Café läuft Aktepe oft an dem Hotel vorbei, das noch vor kurzem ihm gehörte. Doch die Hoffnung, dass er es bald zurückkaufen kann, hat er aufgegeben.