Erinnerungen, die weh tun
26. Mai 2017"Meine Mutter wusste einfach nicht mehr, wie sie mit meinem kleinen Bruder umgehen sollte. Wir haben alle darunter gelitten", erzählt Laila*. Die 18-Jährige ist vor eineinhalb Jahren mit ihren Eltern, dem älteren sowie ihrem kleinen 10-jährigen Bruder Yasser von Damaskus nach Deutschland geflohen. Sie mussten ihre Heimat in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen, nachdem ihr Vater Morddrohungen erhalten hatte.
"Natürlich wollten wir das Land nicht verlassen, aber wir hatten keine andere Wahl. Mein älterer Bruder und ich haben uns damit abgefunden. Aber mein kleiner Bruder kann es bis heute nicht akzeptieren", sagt Laila. Yasser hat die Flucht nicht verwunden. Er gab den Eltern die Schuld für die plötzliche Trennung von seinen Freunden und das Verlassen der Heimat. Yassers Reaktion auf das neue Leben: Er wurde von Tag zu Tag aggressiver. Seine Mutter wollte ihm helfen, doch er ließ sie nicht mehr an sich heran.
Yasser ist eines von mehreren Hundert Flüchtlingskindern in Deutschland, die unter einem Trauma leiden. Laut Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF sind 2015 und 2016 etwa 350.000 Kinder und Jugendliche in Begleitung ihrer Eltern nach Deutschland geflüchtet. Viele stammen aus Bürgerkriegsländern, wo sie traumatische Erfahrungen gemacht haben - und sind auf der Suche nach Schutz und Stabilität.
Am liebsten nur allein sein
Auch Yazen ist aus Syrien nach Deutschland geflohen. Eigentlich wünscht er sich nichts sehnlicher, als einen sicheren Platz zum Spielen, einen Fußball und etwas Schokolade, um glücklich zu sein. Anders als andere Kinder setzt Yazen keinen Rucksack mit den Schulsachen auf, sondern er trägt stets einen kleinen Koffer mit sich. Mit seinem Onkel, aber ohne seine Eltern, war der Junge vor den Kämpfen in Syrien geflohen. Diesen Koffer hatte er bei der Flucht dabei - darin war alles, was er mitnehmen konnte.
Der Tod eines anderen Onkels in Syrien hat Yazen tief geprägt. Aber er erinnert sich auch an die Panzer, die Gefechte und an die Granatenbeschüsse - alles Bilder, die in seine Kindheit gedrungen sind und ihn nicht mehr loslassen. In Deutschland entwickelte er eine post-traumatische Belastungsstörung. Er hat regelmäßige Albträume und Angstzustände, und in vielen Alltagssituation möchte er sich nur noch zurückziehen und allein sein.
Flüchtlingskinder, die unbegleitet nach Deutschland kommen, werden in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht. Das Jugendamt ist dann für ihre Versorgung zuständig und muss bei der Erstaufnahme unter anderem einschätzen, wie die psychische und körperliche Verfassung der Kinder und Jugendlichen ist. Medizinische und psychologische Betreuung wird in den Aufnahmeeinrichtungen zur Verfügung gestellt. Doch oft werden Traumata der Kinder nicht als solche erkannt.
Vertrauen erst aufbauen
"Es ist besser für die Kinder, wenn die Psychologen aus demselben Kulturkreis kommen und die Sprache sprechen", erklärt der Psychologe Nuammar Nakhala von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) im Stadtverband Neubrandenburg. Die AWO arbeitet dort mit Flüchtlingen zusammen und bietet unter anderem Beratung für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund an. In den Therapiestunden müssten die Kinder sich sicher genug fühlen, um über ihre Erfahrungen und schmerzvollen Erinnerungen sprechen zu können. Eine gemeinsame Sprache könne hierbei einen großen Unterschied machen, so Nakhala. "Im arabischen Kulturkreis ist Psychotherapie verpönt, manche halten die Methode für verrückt. Deshalb sind Kinder aus der Region erstmal verhalten, das Kind muss erst einmal Vertrauen zum Therapeuten fassen." Weil er aus demselben Kulturkreis kommt, könne er dieses Vertrauen leichter herstellen, ist Nakhala überzeugt.
Der Therapieansatz hänge von der Stärke des Traumas ab, erklärt der Psychologe. In Yazens Fall wurde eine Einzeltherapie gewählt. Der Junge hatte unter großem Schock gestanden, als er ohne seine Eltern in Deutschland ankam. Bei ihm war es Glück im Unglück, denn er konnte die Hilfe durch den Therapeuten annehmen. Nach etwa vier Monaten ließen die Angstzustände nach. Eine deutliche Besserung war zu beobachten, als seine Eltern wenige Monate später aus Syrien nachzogen.
Hilfe für traumatisierte Geflüchtete
Caritative Einrichtungen in ganz Deutschland bieten Beratung für traumatisierte Flüchtlinge an. Das Psychosoziale Zentrum für Flüchtlinge in Düsseldorf (PSZ) ist ein solcher gemeinnütziger Verein, der Menschen unterstützt, die Erfahrungen mit Krieg, Folter oder Gewalt gemacht haben und in Deutschland Hilfe suchen. Im Jahr werden hier ungefähr 400 Menschen aus mehr als 40 Ländern betreut. Außerdem bildet das Zentrum Fachkräfte und Ehrenamtliche aus, die mit traumatisierten Migranten und Flüchtlingen arbeiten.
Ahmed ist derzeit am PSZ in Düsseldorf in Behandlung, er leidet unter posttraumatischer Belastungsstörung. Der 16-Jährige aus Syrien wollte mit niemandem sprechen, er wollte nicht zur Schule gehen und wies alles zurück, was er in der neuen Umgebung vorfand. Sein am PSZ zuständiger Psychologe erklärt, dass Ahmed oft aggressiv wurde und durch extremistische Bemerkungen aufgefallen war. Der Junge empfand alles in der deutschen Gesellschaft als religiöses Tabu und wollte an keiner Aktivität teilnehmen. Hinzu kamen Albträume und Schlafstörungen - monatelang.
Hindernis für Integration
Der Teenager habe in seiner vom "Islamischen Staat" kontrollierte Heimatstadt ar-Raqqa brutale Gewalt gesehen, erklärt der Psychologe. Ahmed habe mehrmals in der Woche an Einzel- sowie Gruppentherapiesitzungen teilgenommen. In den Therapiestunden sprach er über das, was er erlebt hatte. Doch im Alltag erlebte er oft Rückschläge, wurde vor allem in besonderen Situationen aggressiv und verhaltensauffällig.
Traumata sind ein schwerwiegendes Hindernis bei der Integration, analysiert auch Nuammar Nakhala. Die psychischen Belastungen beeinflussen, wie sehr die Kinder auf andere Kinder zugehen können und wie schnell sie lernen können. "Eltern sollten sich sofort professionelle Hilfe holen, wenn sie Auffälligkeiten bemerken", sagt Nakhala.
Bei Ahmed hat es über ein halbes Jahr gedauert, bis sich sein Verhalten änderte und er sich für andere Jugendliche öffnete. Langsam nahm er den Alltag als solchen an. Er ging sogar einmal mit Freunden ins Schwimmbad. Auch wenn die Erinnerungen nicht verschwunden sind, war es ihm möglich, mit positiven Gedanken dagegen anzugehen, eine Methode, die er in der Therapie erlernt hat.
*alle Namen wurden von der Redaktion geändert