Erlösung aus der Schockstarre
24. August 2012Normalerweise steht Norwegen nur zweimal im Jahr für einen kurzen Augenblick im Zentrum der internationalen Medienöffentlichkeit: im Oktober, wenn der Preisträger für den Friedensnobelpreis bekanntgegeben wird. Und im Dezember, wenn diese wohl berühmteste aller internationalen Auszeichnungen bei einem Festakt im Osloer Rathaus verliehen wird. Doch am 22. Juli 2011 sorgte Anders Behring Breivik mit seinen Terrortaten dafür, dass seine Heimat Norwegen im Jahr der Tat und im Jahr danach immer wieder aufgrund von Gewalt statt wegen Friedens wahrgenommen wurde.
Der 33-Jährige, der sich selbst zum Terroristen geschult hatte, zündete erst im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe und tötete so acht Menschen. Dann fuhr er zur Insel Utøya, wo die Jugendorganisation der Sozialdemokraten ihr traditionelles Sommerlager abhielt, und erschoss weitere 69 überwiegend junge Menschen. Ein ganzes Land war im Schock. Schießereien sind in Norwegen sehr selten, einen Terrorakt diesen Ausmaßes gab es nie zuvor und war wohl weder im In-, noch im Ausland für möglich gehalten worden.
Breivik voll zurechnungsfähig
Am Freitag (24.08.2012) wurde Anders Behring Breivik zu einer Haftstrafe von 21 Jahren verurteilt. Das bedeutet die Höchststrafe. Doch auch damit wird Breivik nicht zwingend freikommen, denn wenn er weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, kann die Haft in Fünfjahresschritten verlängert werden.
Wie von ihm selber erhofft, wurde er vom Gericht für zurechnungsfähig gehalten. Gutachter waren sich in der Frage uneinig gewesen. Auch in der Bevölkerung war diskutiert worden, inwieweit eine solch grausame Tat von einem Menschen begangen worden sein kann, der zurechnungsfähig ist. Hanne Skartveit, Kommentatorin bei der Zeitung Verdens Gang, nannte das Urteil "gut und richtig" und sprach damit die Gedanken vieler aus. Nicht zuletzt, weil Breivik angekündigt hatte, gegen eine mögliche Unzurechnungsfähigkeit in Berufung zu gehen, herrschte Erleichterung. Schließlich hätten sonst weitere Prozessmonate gedroht. "Anders Behring Breivik wusste, was er tat, und er wusste, dass es wahnsinnig war", so Skartveit.
„Ich bin erleichtert" - was Tore Sinding Bekkedal, der Utøya überlebte, zum Urteil sagte, scheint auch das Urteil vieler anderer Norweger zu sein. „Erleichtert" beschrieb der Großteil von Lesern der Internetseite der größten norwegischen Zeitung, Aftenposten, ihre Gefühlslage nach der Urteilsverkündung. "Die Attentate werden unsere Generation prägen", sagt Lars Ellingsgard Øverli. Der Fotograf ist Anfang 20 und in den vergangenen Monaten mit zwei ebenfalls jungen Kollegen durch Norwegen gereist, um Jugendliche zu porträtieren, die im Alter der Fotografen und damit der meisten der auf Utøya Ermordeten sind. Er meint, dass der 22. Juli 2011 für diejenigen, die heute im jungen Erwachsenenalter sind, ähnlich einschneidend ist, wie für deren Großeltern der Zweite Weltkrieg, währenddessen Norwegen von Deutschland besetzt war.
Täter aus der Mitte der Gesellschaft
Unmittelbar nach der Bombenexplosion am Nachmittag dieses Freitags vor etwas mehr als einem Jahr dachten viele an möglichen islamischen Terror. Doch stattdessen handelte es sich um den Terror eines rechtsextremen Anti-Islamisten.
Der Attentäter kommt aus der Mitte der Gesellschaft: Er stammt aus sogenanntem gutbürgerlichem norwegischem Hause, war zuvor nicht weiter aufgefallen, konnte sich artikulieren und hatte einmal eine kleine Karriere in der rechtsliberalen bis rechtspopulistischen, aber etablierten Fortschrittspartei gestartet. All dies machte den Schock in Norwegen anfangs nur noch größer. Denn während islamistischer Terror stets wenn auch unwahrscheinlich, so doch denkbar schien, hatte niemand mit einer derartigen Tat eines einheimischen Rechtsextremisten gerechnet. Es wurde deutlich, dass man sich in Norwegen dieser Gefahr nicht bewusst war.
Die Bevölkerung reagierte auf eine ganz eigene Weise. Während ein Attentat von Islamisten vermutlich nicht zu kollektiven Reaktionen geführt hätte, war es in diesem Fall ganz anders. Zu Tausenden gingen die Menschen bei Demonstrationen und Trauerveranstaltungen auf die Straße, Einwanderer und jene, die aus Familien stammen, die seit Generationen in Norwegen leben, Politiker aller im Parlament vertretenen Parteien – sie alle wollten gemeinsam ein Zeichen setzen, dass sie diesen Teil der norwegischen Gesellschaft nicht akzeptieren. "Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Menschlichkeit. Aber niemals Naivität", sagte damals Ministerpräsident Jens Stoltenberg.
Schlampige Arbeit der Institutionen
Ein kurz vor der Urteilsverkündung präsentierter Untersuchungsbericht zeigte, dass es wohl nicht nur naiv gewesen war zu glauben, in Norwegen könne niemand zu so einer grausamen Tat aus solch abstrusen Beweggründen bereit sein. Auch war es falsch anzunehmen, dass die Institutionen alle fehlerfrei arbeiten würden. Denn auch in Norwegen wurde geschlampt. Der Geheimdienst hatte den Attentäter schon einmal auf dem Schirm und hätte womöglich eingreifen können. Die Polizei machte am Tage der Anschläge viele Fehler, hätte die Jagd auf die Jugendlichen womöglich verhindern, zumindest aber früher stoppen können.
Der Prozess allerdings hat den Norwegern Hoffnung gegeben: Viele beurteilen es als positiv, dass es möglich ist, eine solche Tat systematisch aufzuarbeiten.