Todesopfer rechter Gewalt
8. Juli 2013"Jugendliche bringen Jugendliche um", Svenja kann gar nicht fassen, was sie auf Ausstellungsplakaten liest: Mehr als vier Stunden quälten und folterten drei Neonazis in Brandenburg 2002 den 17-jährigen Marinus, bis der junge Mann tot war. Wegen seines Sprachfehlers und seiner Kleidung sahen sie ihn als "minderwertig" an. Seine Leiche fand man in einer Jauchegrube.
Ein kleines Stück weiter hängen die Fotos der drei jungen Aussiedler Viktor, Waldemar und Aleksander (15, 16 und 17 Jahre). 2003 tötete ein 17-jähriger Rechtsextremist in Baden-Württemberg die drei Jugendlichen mit Messerstichen ins Herz. Er geriet mit ihnen vor einer Diskothek in Streit, in der er wegen Angriffen auf einen Punk schon Hausverbot hatte. Dieser Fall geht Svenjas Mitschüler Lucas sehr nah. Ausgehen und vor der Disco stehen, er kann sich die Situation gut vorstellen.
Svenja und Lucas, beide 17 Jahre alt, gehören zum Psychologie-Kurs der Integrierten Gesamtschule Bonn-Beuel. Sie gehen zusammen mit Christina Kraus in Königswinter bei Bonn durch die Wander-Ausstellung "Opfer rechter Gewalt seit 1990". Kraus ist Polizistin. Gemeinsam mit anderen Beamten und Angestellten besucht sie beim dbb, dem Gewerkschafts-Dachverband für den öffentlichen Dienst, ein Seminar über Rechtsextremismus. Der Ausstellungsbesuch mit den Schülern ist Teil des Seminars.
Erschüttert über Morde an Kindern und Kollegen
Was erschüttert Christina Kraus beim Blick auf die Opfer am meisten? "Brandanschläge, bei denen 4-Jährige zu Tode kommen", sagt sie und schaut auf die Fotos der fünf Mädchen und Frauen, die 1993 beim Brandanschlag auf das Haus der türkischen Familie Genç in Solingen starben. Sie ergänzt: "Meine Kinder sind im gleichen Alter. Das ist nicht nur als Polizistin, sondern auch als Mutter ganz furchtbar zu sehen". Unter den 169 Todesopfern rechter Gewalt in der Ausstellung sind zwölf Kinder im Alter von bis zu 14 Jahren.
Und es gibt noch andere Taten, zu denen Christina Kraus, Polizeibeamtin im Sauerland, sofort einen Bezug hat: Polizisten-Morde. Sie war noch in der Ausbildung, als ein bekennender Neonazi aus Dortmund im Jahr 2000 drei ihrer Kollegen erschoss: "Wir mussten an einem Tatort vorbeifahren, wo die Kreuze dann standen. Wenn man gerade mit der Ausbildung fertig wird, überlegt man sich doch mal eben kurz, ob das das Richtige ist."
Drohungen gegen Asylbewerberheim
Christina Kraus hat sich ganz bewusst zum Seminar über Rechtsextremismus angemeldet, weil sie in ihrem Einsatzgebiet immer mehr damit zu tun hat. Fühlt sie sich denn gut genug für das Thema gerüstet? "Nein", sie schüttelt den Kopf. "Polizeiarbeit ist so vielfältig, wir müssen so viel Wissen haben - vom Strafrecht bis zum Verkehrsrecht. Diese Informationen kann man in der Ausbildung gar nicht alle so kompakt vermitteln". Die Beamtin erinnert sich: "Über Rechtsradikalismus wurde in meiner Ausbildung damals überhaupt nichts erzählt, gar nichts."
Auch Sven von der Osten von der Feuerwehr in Menden will sich beim Seminar über rechte Gewalttäter informieren. Ihm macht Sorgen, dass in seiner Heimatregion, wo ein neues Asylbewerberheim eröffnet werden soll, schon Drohungen ausgestoßen wurden: "Die fackeln wir ab."
"So viel Brutalität, so viele hilflose Opfer - das wusste ich nicht", Äußerungen wie diese hört man die ganze Zeit beim Ausstellungs-Rundgang, sowohl von den Jugendlichen als auch von den Beamten und Angestellten. Neben den Fotos der zehn NSU-Mordopfer, die mittlerweile die meisten aus den Medien kennen, hängen viele Namen, die keiner je gehört hat, von einigen Getöteten gibt es noch nicht einmal Fotos.
Getötet wird, wer das rechte Weltbild stört
Es gibt Fälle aus fast allen Bundesländern. In offiziellen Statistiken tauchen die wenigsten auf. Die Ausstellung des Vereins "Opferperspektive" basiert auf den Recherchen von Journalisten und ist schon viermal überarbeitet worden. Die Macher haben auch Fälle aufgenommen, bei denen es kein einschlägiges Gerichtsurteil gibt. "Ich lese immer 1990, 1991, 1992", bemerkt Sven von der Osten. Anfang der 1990er Jahre starben besonders viele Opfer bei Brandanschlägen. Nach der Wiedervereinigung war die rechte Gewalt deutlich angestiegen. Die Erwachsenen erinnern sich daran, für die Schüler ist das neu.
Der Historiker Volker Franke, der den Kurs eingeladen hat, um den Austausch zwischen den Generationen zu fördern, hat alle gebeten, zu schauen, welche Gruppen es unter den Opfern rechter Gewalt gibt. Schnell entsteht eine lange Liste: Obdachlose, sozial Schwache, Asylbewerber und solche Personen, formuliert Lucas, "die optisch oder sprachlich als Nicht-Deutsche angesehen werden", sie werden besonders oft getötet. Täter sprechen Menschen, die nicht ins rechte Weltbild passen, die Menschenwürde ab.
Die Gewalt trifft auch Punks und Linke, Kranke, Behinderte, Russlanddeutsche, einen Holocaust-Überlebenden, Sinti, Homosexuelle, Polizisten, einen Anwalt mit Frau und Tochter und immer wieder "Zufallsopfer", die sich zum Beispiel über laute Nazi-Musik beschwert haben.
Nicht nur zuschauen, sondern helfen, ohne selbst Opfer zu werden
Auch Ella und Laura haben nicht gewusst, aus wie geringem Anlass Menschen von rechten Gewalttätern getötet werden: "Eine junge Frau wurde nur wegen eines Aufnähers ermordet, auf dem 'Nazis raus' stand. Das ist sehr erschreckend." Andere wurden aus Langeweile angegriffen oder, wie die Täter sagten, "aus purer Lust auf Menschenjagd". In der Ausstellung hängen Spiegel mit den Fragen "Täter?", "Opfer?", "Zuschauer?". Gerade die letzten beiden Fragen bewegen auch die Betrachter in Königswinter.
Wie kann man reagieren, wenn zum Beispiel in der Bahn Neonazis andere anpöbeln oder sogar angreifen? Schülerin Laura will dann nicht nur zuschauen, sondern irgendwie helfen und wünscht sich, dass so etwas auch einmal in der Schule eingeübt wird. Psychologie-Lehrerin Bärbel Jakobs nickt, sie will das aufgreifen. Laura nimmt sich fest vor, in einer solchen Situation Verbündete zu suchen und die Polizei anzurufen, möglichst unauffällig, damit sie nicht selbst angegriffen wird. Ein Justizbeamter, der im Strafvollzug arbeitet und regelmäßig mit Gewalt zu tun hat, gibt ihr Recht. Er findet es auch wichtig, vorher zu überlegen, wie man zusammen mit anderen helfen kann, aber eben ohne sich selbst zu gefährden: "Ich will nachher nicht das Opfer sein."
Wenigstens per Handy einen Notruf absetzen
Die anwesenden Polizisten bestärken Laura in ihren Gedanken. Ulrich Kersting, Bundespolizist im Ruhrgebiet, hat auch in seinem Umfeld eine gestiegene Gewaltbereitschaft beobachtet. Er und seine Kollegen wünschen sich, dass Zeugen versuchen, wenigstens per Handy einen Notruf abzusetzen, wenn sie sehen, dass Rechtsextremisten Gewalt ausüben oder Menschen bedrohen. Nur so könne die Polizei auch auf mögliche Täter aufmerksam werden. Alleine gegen rechte Gewalttäter solle keiner vorgehen, das machten Polizisten schließlich auch nicht.
Verbündete gegen Rechts finden - mit diesem Gedanken gehen Jugendliche und Erwachsene an diesem Mittag nach einer lebhaften Diskussion über Zivilcourage auseinander. Der Ausstellungsbesuch war belastend, den Austausch miteinander fanden beide Gruppen interessant und wichtig. Lucas war mit der Erfahrung gekommen, dass rechte Gewalt häufig verdrängt wird, "weil man sich nicht so damit auseinandersetzen möchte". Er ist voll und ganz einverstanden, als Svenja sagt: "Ich finde es wichtig, dass man darüber spricht und dass alle das mitbekommen. Es ist ja in der Gesellschaft drin."