Erstes Urteil nach Gruppenvergewaltigung
3. September 2013Er gilt als einer der brutalsten Kriminalfälle der jüngeren indischen Geschichte. Eine 23-jährige Frau und ihr männlicher Begleiter waren am 16. Dezember 2012 von sechs Männern in einen Bus gelockt worden. Die Sechs vergewaltigten und folterten die Universitätsstudentin, schlugen ihren Freund zusammen und warfen die Schwerverletzten anschließend auf die Straße. Einige Wochen später starb die junge Frau an schwersten inneren Verletzungen in einem Krankenhaus in Singapur.
Acht Monate nach dem Verbrechen ist jetzt vor einem Gericht in Neu Delhi das erste Urteil gesprochen worden: Der jüngste der mutmaßlichen Täter erhielt die mögliche Höchststrafe von drei Jahren Jugendarrest. Aufgrund seines für die Tatzeit vermuteten Alters von 17 Jahren fiel sein Fall unter das Jugendstrafrecht.
Weltweite Schlagzeilen
Obwohl Sexualverbrechen in Indien nicht selten sind - das nationale Büro für Kriminalstatistik spricht von einem Fall alle 20 Minuten - hatte die Brutalität dieser Vergewaltigung die indische Gesellschaft schickiert.
Der Fall löste eine landesweite Protestwelle aus und machte Schlagzeilen in der ganzen Welt. Heute geht es in Indien längst nicht mehr nur um Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt, sondern um die gesellschaftliche Situation der Frauen insgesamt. Ihre weit verbreitete Benachteiligung ist für viele der Nährboden, auf dem die Gewalt erst entsteht.
Angesichts des jüngsten Angeklagten ist zudem eine hitzige Debatte darüber entstanden, ob das Alter für das Jugendstrafrecht von 18 auf 16 reduziert werden soll. K.T.S. Tulsi, ein hochrangiger Rechtsanwalt am Obersten Gericht Indiens, erklärt warum: Es gebe eine deutliche Zunahme bei Morden und Vergewaltigungen durch Männer zwischen 16 und 18 Jahren. "Im Zusammenhang mit diesem gefährlichen Trend gibt es eine weit verbreitete Forderung, die Grenze des Jugendstrafrechts herabzusetzen." Andere Juristen fordern striktere Gesetze, unter anderem eine Mindestgefängnisstrafe von 20 Jahren für Gruppenvergewaltigungen und, wenn das Opfer stirbt, die Todesstrafe.
Signal in die Gesellschaft
Die Frauenrechtsaktivistin Ranjana Kumari glaubt, dass der Prozess eine nachhaltige Wirkung auf ganz Indien haben wird: "Sowohl das Ergebnis des Prozesses als auch die Verhandlung gegen die anderen Verdächtigen haben weitreichende Auswirkungen darauf, wie unser Rechtssystem Gewalt gegen Frauen bewertet." Im Gespräch mit der Deutschen Welle fügte Kumari hinzu, dass der Prozess eine Art Präzedenzfall ist, der anzeigt, wie das Rechtssystem zukünftig mit Vergewaltigungen umgehen wird.
Die Aktivistin glaubt auch, dass vor allem die Urteile der Erwachsenen, die erst in einigen Monaten erwartet werden, eine Wirkung auf das Verhalten von Männern gegenüber Frauen haben könnte: "Wenn die Angeklagten für schuldig befunden werden und eine lange Haftstrafe oder sogar die Todesstrafe bekommen, dann könnte das zur Abschreckung führen." Kumari ist der Ansicht, dass nur eine harte Strafe in Kombination mit einer Nulltoleranz gegenüber sexualisierter Gewalt Männer und Jungen kontrollieren könne.
Der Fall hat allerdings auch auf einer anderen Ebene eine unmittelbare Wirkung. Medienberichte aus Neu Delhi zufolge ist die Zahl der angezeigten Sexualverbrechen in den Monaten nach der Gruppenvergewaltigung sprunghaft angestiegen. "Es gab einen Zuwachs von 150 Prozent bei Vergewaltigungsfällen und sogar von 590 Prozent bei sexueller Belästigung", so die Polizei aus Neu Delhi. Die Frauenrechtsaktivistin ist der Ansicht, dass dies mit einem wachsenden Bewusstsein für die Rechte der Frauen zu tun habe.
"Vielleicht brauchen wir einen neuen Gandhi"
Umstritten bleibt allerdings, ob diese Wirkung aus einer Verschärfung der Gesetze folgt. Für Kaimini Jaiswal, ebenfalls Anwalt am Obersten Gericht Indiens, sind härtere Gesetze nicht die richtige Antwort: "Wir hören von derartigen Verbrechen immer wieder. Die Gesetze sind ausreichend, aber die Umsetzung ist ungenügend." Im Interview mit der Deutschen Welle fährt er fort: "Was wir in den Großstädten sehen, ist nicht das richtige Bild. In den meisten Haushalten können die Frauen weder ihren Kopf noch ihre Stimme erheben. Darum müssen wir uns kümmern. Die meisten Frauen kennen ihre Rechte noch nicht einmal."
Obwohl sich die indische Gesellschaft verändert, ist sie nach wie vor sehr patriarchalisch. K.T.S. Tulsi ist deswegen der Ansicht, dass sich das Bewusstsein der indischen Männer ändern muss, um den Status der Frauen zu verbessern. Ohne diesen Sinneswandel könnte kein Gesetz einen Effekt haben. "Vielleicht brauchen wir einen neuen Gandhi, denn das Problem ist weniger juristisch als vielmehr sozial."