"Es fühlte sich an wie ein Krieg"
22. Dezember 20202020 war ein hartes Jahr. Wie hart, merkt Ärztin Carmen Gijón vielleicht erst jetzt. Sie hat noch ein paar Tage frei, bevor es wieder zurück auf die Intensivstation geht. Seitdem ihr Krankenhaus im Madrider Norden schlagartig von der ersten Welle der Corona-Pandemie im März erfasst wurde, ist zwar etwas Zeit vergangen, aber das Erlebte ist noch lange nicht verarbeitet. Damals kämpften sie und ihre Kollegen um das Überleben der Patienten in einem Zustand zwischen Verzweiflung, Frust und Ohnmacht.
Carmen Gijón war dabei, als das Coronavirus unzählige Menschen aus dem Leben riss. Sie hat gesehen, wie ihre Patienten von einem Moment zum anderen vom Bett in einem Leichensack verschwanden. Manche von ihnen waren alt, andere eben erst Eltern geworden. Manche wirkten noch so, als würden sie es schaffen. Sie starben oft nur im Beisein von Ärzten der Intensivstation. Ganz selten war es mal möglich, einen Angehörigen unter strengen Auflagen ans Sterbebett zu holen.
"Auf dem Weg nach Hause haben wir jedes Mal geweint"
Wenn die junge Intensivmedizinerin sich an diese Momente erinnert, kämpft sie mit den Tränen. Acht Tage am Stück und mit nur einem Tag Pause dazwischen haben ihre Kollegen und sie bis zum Sommer im Akkord gearbeitet, sich selbst vergessen, 200 Prozent gegeben. Auf dem Weg nach Hause hätten sie jedes Mal geweint und so alles raus gelassen, erzählt sie. Danach seien sie ausgelaugt in einen unruhigen Schlaf gefallen.
"Manchmal weiß ich nicht, wie wir das alles überhaupt überstanden haben. Die erste Welle war buchstäblich wie eine Schlacht", erinnert sich die 38-Jährige. Viele ihrer Kollegen brauchen inzwischen psychologische Betreuung und manchmal auch Medikamente, um wieder Ruhe zu finden. Selbst die, die "ganz stark" sind, sind traumatisiert. Als die Infektionszahlen im Sommer zurückgingen gab es eine kurze Pause. Aber schon im September füllten sich die Intensivbetten wieder. Carmen Gijón ist erschöpft, körperlich und geistig.
Mediziner rechnen wieder mit vielen Toten nach den Feiertagen
Nach den Erfahrungen aus dem Frühling sei das ein Schlag ins Gesicht, findet Intensivmedizinerin Laura Sanz. Nicht nur die zu lockeren Maßnahmen auch das Verhalten jedes Einzelnen hätten dazu geführt, dass das Virus wieder außer Kontrolle geriet. Eine weitere Welle ist aus ihrer Sicht wahrscheinlich.
Auch andere Ärzte rechnen damit, dass es wieder viele Corona-Tote geben wird, besonders nach den Weihnachtsfeiertagen. In Spanien dürfen je nach Region sechs bis zehn Leute zusammenkommen. Ob sich alle daran halten und außerdem noch auf Abstand, Masken und Lüften achten, bleibt abzuwarten. "Alle wissen inzwischen, worauf es ankommt. Es ist eine Frage der Verantwortung," sagt Laura Sanz. In ihrer Klinik in Madrid kommen gerade vermehrt Familien, die sich vor dem Fest testen lassen. Ein guter Ansatz, findet die Intensivmedizinerin.
Die 37-Jährige hat den Beginn der Pandemie als Corona-Patientin miterlebt. Angesteckt hat sie sich wahrscheinlich, als noch niemand die Gefahr ernst genommen hat. Dann lag sie zwei Wochen lang im Krankenhaus und rang nach Luft. Jeden Tag hatte sie Angst, dass ihre Kollegen sie auf die Intensivstation verlegen müssen. Vom Bett aus beobachtete Laura Sanz, wie sich die Welt um sie veränderte. Sie habe Glück gehabt, noch ein Zimmer zu bekommen. Schon wenig später wurde jeder Platz im Krankenhaus für Corona-Patienten benötigt.
"Auch auf den Fluren lagen die Kranken"
"Es fühlte sich an wie ein Krieg. Sogar auf den Fluren lagen die Kranken", erinnert sie sich. Manche Patienten starben so plötzlich, dass sie nicht mal Zeit hatten, um Hilfe zu rufen. Ohne ihre Zimmernachbarin, die 78-jährige Joaquina, hätte sie die Zeit nicht überstanden. "In den zehn Tagen, die wir zusammen verbracht haben, war sie zu mir wie eine Großmutter," erzählt Sanz. Joaquina überlebte nicht. Auch der Chefarzt von Laura Sanz starb am Coronavirus.
Nach ihrer Erkrankung wollte sie so schnell wie möglich wieder arbeiten, auch um ihre Kollegen zu unterstützen. Noch geht das allerdings nicht in ganzen Schichten. Laura Sanz leidet unter den Spätfolgen der COVID-Erkrankung. Sie hat Probleme mit der Verdauung. Diese Folgen fließen auch in ihre Forschung ein. Gemeinsam mit anderen Medizinern untersucht sie mögliche Zusammenhänge zwischen den Bakterien der Darmflora und einer Corona-Infektion.
Bakterien seien wie "der König im Urwald" - die guten verteidigen ihr Territorium vor Angreifern, zum Beispiel vor dem Coronavirus. Das könnte die Schwere des Infektionsverlaufs beeinflussen. Möglicherweise könne man auch durch die Bakterienflora Spätfolgen der Erkrankung bekämpfen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Aber spätestens im Januar rechne sie wieder mit langen Tagen und Wochen auf der Intensivstation. Sie hofft, dass sie und ihre Kollegen genug Energie haben werden, denn 2020 war hart.