"Es gibt wieder ein Bedürfnis nach linker Politik"
13. August 2005DW-TV: Herr Gysi, Sie sind 57 Jahre alt, von Beruf Rechtsanwalt, stammen aus Berlin und Sie waren ganz maßgeblich daran beteiligt, dass aus der alten DDR-Staatspartei SED die PDS geformt wurde. Nun stellt die sich unter dem Namen Linkspartei zur Wahl. Die Linkspartei ist ein Bündnis aus der alten PDS und Politikern, die sich aus der Regierungspartei SPD abgespalten haben. Dieses Bündnis holt aus dem Stand in den Umfragen zwischen elf und zwölf Prozent. Wie erklären Sie sich diesen Höhenflug?
Gregor Gysi: Na ja, erstens haben wir ja noch keine Wahl, sondern nur Umfragen, da bin ich immer ein bisschen vorsichtiger. Zweitens muss man einfach die unterschiedlichen Bedingungen sehen. Damals musste vieles aufgelöst werden und wir wussten, wenn wir jetzt auch noch die Partei auflösen, entsteht ein Chaos, das überhaupt gar nicht beherrschbar ist. Aber bei allem, was wir da erreicht haben und was auch sehr schwierig war, es blieb ein erheblicher Makel: Wir galten irgendwie als eine Partei, die eben noch aus der DDR stammte. Das hat mich wahnsinnig gewurmt, ich fand das auch ungerecht. Ich hab auch als Person vielleicht etwas mehr Akzeptanz erreicht, konnte aber das nicht für die Partei erreichen.
Und nun regiert Gerhard Schröder und die SPD seit sieben Jahren. Und sie regiert auf eine Art und Weise, dass plötzlich ein Bedürfnis nach linker Politik wieder in Deutschland entsteht. Zumindest, dass darüber diskutiert wird, dass über Alternativen diskutiert wird. Viele sagen sich, der Neoliberalismus, das kann ja nicht die Lösung sein. Und was machen jetzt Leute, die enttäuscht sind, die sagen, 'ich hab die Sozialdemokratie aus ganz anderen Gründen gewählt'. Was machen die jetzt? Nun stellt sich Folgendes heraus, einige kommen zwar auch auf die Idee uns zu wählen, aber nicht sehr viel mehr, erst mal. Sondern sie bilden eine eigene Partei in den alten Bundesländern, eine Partei links von der Sozialdemokratie.
Was bietet die Linkspartei denn inhaltlich an. Die SPD hat sich in den sieben Jahren nur unter großen Schmerzen zum Abbau des Sozialstaates durchgerungen. Was setzen Sie dagegen?
Also die Schmerzen waren bei Gerhard Schröder nicht so sichtbar, der war immer ziemlich vergnügt dabei und andere auch. Aber wenn Sie die Schmerzen festgestellt haben, nehme ich das gerne zur Kenntnis.
Wir erinnern uns an die Sonderparteitage, das Ringen um die Reformen.
Ja, sehen Sie, da gab es Leute, das stimmt, das will ich auch gar nicht bestreiten. Aber es gab auch immer Vorreiter in der Richtung: Also was - wenn wir es mit einem Satz formulieren - sagt der neoliberale Zeitgeist. Wir können die Wirtschaft dadurch beleben, dass wir die Steuern für Besser- und Bestverdienende, für Vermögende und für die großen Konzerne senken, und dass wir gleichzeitig Sozialleistungen und andere Leistungen abbauen. Also Renten kürzen, die Vergütung für Arbeitslose kürzen und die Kranken zuzahlen lassen. Wir stellen die Gegenthese auf und beweisen das mit Beispielen, einschließlich den USA, Großbritannien, Schweden und anderen Ländern und sagen nein. Erst wenn wir wieder mehr soziale Gerechtigkeit haben, erst wenn wir wieder mehr soziale Wohlfahrt haben, erst wenn wir wieder eine Nettolohnsteigerung haben, geht es auch wirtschaftlich voran.
Das Problem in Deutschland ist doch der teure Sozialstaat. Sie haben jetzt keine Antwort gegeben, wie die Linkspartei den Sozialstaat erhalten will, wie sie ihn finanzieren will.
Das haben sie mich ja auch noch nicht gefragt. Ich habe erst mal von der anderen Idee gesprochen. Wenn man etwas sozialer machen will, muss man ja auch was einnehmen. Also haben wir ein neues Steuermodell vorgeschlagen. Und zwar ein Steuermodell, wo wir - wie ich finde angemessen - die Wirtschaft heranziehen. Und zwar insbesondere auch die starken Teile der Wirtschaft, nicht die kleineren und mittleren Unternehmen, die - so sage ich mal - am Existenzminimum herumkrepeln.
Das heißt, wir müssen das Steuersystem verändern. Und das wollen wir auch verändern, und zwar sowohl bei der Einkommenssteuer als auch bei der Körperschaftssteuer. Wir wollen auch eine Börsensteuer, wir wollen eine Vermögenssteuer. Das ist alles ausgerechnet. Der Vorwurf, dass bei uns gerade die mittleren Einkommen das bezahlen müssen, ist Unsinn. Wir haben ein Steuersystem vorgestellt, da würden wir im Jahr mindestens 64 Milliarden Euro mehr einnehmen. Die brauchen wir auch, sonst können wir das Land nicht sozialer gestalten und gleichzeitig, was die Neuverschuldung betrifft, die Maastricht-Kriterien einhalten, das wollen wir ja auch. Also, ich denke, das ist einfach eine spannende Debatte.
Lesen Sie auf der zweiten Seite u.a., ob die neue Linkspartei an einer Koalition mit der SPD interessiert ist.
DW-TV: Opposition gegen den neoliberalen Mainstream, Widerstand gegen Sozialabbau. So präsentieren Sie sich den Wählern. Warum nur Opposition, wollen Sie nicht regieren mit dem Programm?
Gregor Gysi: Das geht ja nicht. Wir können ja nicht ernsthaft mit über 50 Prozent der Stimmen rechnen. Das ist ja unreal.
Aber Sie können ja eine Koalition anstreben.
Ja, mit wem denn? Alle sind neoliberal ausgerichtet. Verstehen Sie, das erfordert ja, dass die SPD in einem Prozess, vermutlich in einem Prozess der Opposition, man weiß es nicht, darüber nachdenkt, dass ihre Politik von Agenda 2010 und Hartz IV vielleicht falsch war. Dass sich andere Mehrheiten herausbilden, dass sie sagen, wir müssen mal wieder zu unseren sozialdemokratischen Traditionen zurückfinden. Dann halte ich das nicht für ausgeschlossen. Aber das steht nicht 2005 an. Jetzt brauchen wir erst mal andere Diskussionen und zwar auch in den Medien. Ich habe in den alten Bundesländern immer mehr den Eindruck gewonnen, als ob die denken, der Sozialabbau liegt am Osten. Das tut auch ein bisschen weh.
Und, ich hatte den Eindruck, der Untergang des Sowjetsystems, der ja politische, ökonomische, moralische und demokratische Gründe hatte, der wird jetzt von einigen Leuten im Westen genutzt, um zu sagen, diesen ganzen Sozialstaatskompromiss, den haben wir ja bloß im Wettbewerb gemacht, jetzt ist er nicht mehr nötig. Jetzt können wir wieder so werden, wie wir mal waren. So eine Rückerinnerung an Manchester. Ja, dagegen muss man schon politisch was unternehmen. Und dagegen müsste an sich die SPD politisch etwas unternehmen, statt sich in diesen Mainstream hineinzubegeben und jetzt damit zu werben, dass sie sagen, unter den anderen wäre es noch schlimmer gekommen. Das kann zwar sein, aber es ändert nicht viel.
Verstehe ich Sie richtig, Sie wollen die SPD auf den Pfad sozialdemokratischer Tugend zurückholen und dann könnte da mittelfristig Zusammenarbeit oder auch ein Zusammengehen stehen?
Also, ich würde mal sagen, Oskar Lafontaine will das vielleicht mehr. Er war mal der Vorsitzende der Partei. Ich war nie in der Partei, deshalb sind meine Gefühle dort etwas begrenzter. Aber wenn Sie mich fragen nach Koalitionsmöglichkeiten, sage ich, das ist die Voraussetzung. Denn dann haben wir vielleicht wieder ähnliche Ziele, wo sie dann über Kompromisse sagen können, ja jetzt können wir uns irgendwie verständigen. Aber wenn die Ziele so unterschiedlich sind, ich wüsste ja gar nicht, worin sollte denn der Kompromiss bestehen.
Oskar Lafontaine ist ja nicht nur der ehemalige SPD-Vorsitzende, er ist auch der erklärte Intimfeind des Bundeskanzlers. Haben Sie nicht ein bisschen Sorge, dass Sie ihm nur das Vehikel bieten, mit ihrer Organisation einen ganz persönlichen Rachefeldzug gegen Gerhard Schröder durchzuziehen?
Nein, die Sorge habe ich nicht, denn Gerhard Schröder lebt natürlich seit der Wahl in Nordrhein-Westfalen in Niederlage. Das weiß doch auch Oskar Lafontaine. Er weiß doch, dass er ihn wahrscheinlich im Bundestag gar nicht mehr sehen wird. Und deshalb stellt sich diese Frage gar nicht. Was er weiß, ist erstens, es wird eine Partei links von der Sozialdemokratie geben, die eine ernstzunehmende Kraft ist und zweitens, daraus kann über Jahre, nicht sofort, auch wieder ein Zusammengehen werden mit der SPD, wenn die sich wieder auf ihre Traditionen besinnt. Ja, und wenn er dabei ein kleines bisschen heimlich denkt: 'Dann sagen sie vielleicht, wir hätten lieber ihm folgen sollen, als dem anderen.' Na, das ist doch legitim. Wer würde nicht so denken, in einer solchen Situation. Aber ich glaube, mit Gerhard Schröder hat das immer weniger zu tun.