Wie Kinder- und Jugendbücher den Glauben unterstützen
2. April 2022Heute ist Weltkinderbuchtag oder auch Internationaler Kinderbuchtag, ein Feiertag – zumindest für mich. Ich werde häufig etwas komisch angeschaut, wenn ich sage, dass ich gerne Kinder- und Jugendbücher lese. „Auch jetzt noch?“ Ja, aber natürlich! Nein, ich bin kein Kind und habe auch kein Kind, das ich zur Rechtfertigung dessen vorschieben kann, wie es viele meiner Freundinnen tun.
Ich lese Kinder- und Jugendbücher, weil sie all ihren Leserinnen und Lesern (nicht nur den Jüngeren) eine Experimentier-Welt bieten: Anhand ihrer Geschichten können Verhaltens- und Sprechweisen gewissermaßen anprobiert werden: Ob man sie behält oder der Autorin zurückgibt, entscheidet man selbst. Wie Themen inhaltlich und sprachlich über die Figuren verhandelt werden, kann als Beispiel für das reale Leben dienen – und auch bei der Entwicklung des Glaubens helfen.
Deshalb vergibt die Deutsche Bischofskonferenz jährlich den katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis. Das diesjährige Preisbuch „Dunkelnacht“ von Kirsten Boie begleitet Jugendliche durch eine der letzten Nächte des zweiten Weltkriegs. Alle Hauptfiguren nehmen unterschiedliche Perspektiven ein und liefern verschiedene Motive für ihr Handeln. Boie bietet den Leserinnen und Lesern die Figuren als Reflexionsspiegel an: Wie würde ich in einer solchen oder ähnlichen Situation agieren? Die Jugendlichen spüren sehr intuitiv, zu welcher Protagonistin sie eine emotionale Nähe haben und zu welchem Protagonisten sie auf Distanz gehen. Sie können ihr Verhalten so in Gedankenexperimenten erproben, ohne wirklich Teil eines solchen Kriegsszenarios sein zu müssen. Beim Lesen erfahre ich also viel über mich, wie ich worauf in Resonanz gehe und was mir das über meine tiefsten Einstellungen verrät. Das ist alles richtig und doch klingt es sehr didaktisch.
Warum feiere ich dann jenseits dieser reflexiv-didaktischen Erwachsenen-Perspektive Kinder- und Jugendbücher gerade aufgrund ihres Potentials, den eigenen Glauben zu formen und zu entwickeln? Kinder- und Jugendbücher haben einen großen Vorteil: Sie machen Setzungen zu bestimmten Dingen und Gegebenheiten. Meine zehnjährige Nichte ist die Logik in Person. Sie will die Welt verstehen und erklären können, sonst ist sie nicht zufrieden. Aber sobald sie ein Buch aufklappt, wird die Setzung der inneren Logik des Buches akzeptiert. Innerhalb ihrer Erzählungen sind die Kinder- und Jugendbücher natürlich auch stimmig und logisch, aber sie müssen sich nicht der weltlichen Rationalität beugen, sondern können eigene Setzungen machen. Meine Nichte ist sich grundsätzlich nicht sicher, ob es Gott gibt. Wenn Linda Dielemans in „Im Schatten des Löwen“ ihre Protagonistin Junhi in einer Welt leben lässt, in der die Existenz der Gottheit ‚Mutter‘, die über Träumer und Träumerinnen mit der Welt kommuniziert, gesetzt ist, würde sie das ohne weiteres annehmen. Und dann gibt es den entscheidenden Moment: Diese Bücher sagen nicht „ich glaube, die Welt dreht sich“ oder „ich vermute, wir atmen“, sondern „Das Pferd ist ein Hund“
(sehr lesenswertes Buch von Tamara Bach!) und damit ist das klargestellt. Auf sprachlicher Ebene brauchen Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung der eigenen Religiosität oder des eigenen Glaubens keine relativierenden Aussagen, wie wir sie im Kontext von Religion und Kirche zugegeben häufig nutzen, da wir meinen, uns in den säkularen gesellschaftlichen Kontext einordnen zu müssen. Sie brauchen überzeugte Statements und dann Handlungsoptionen innerhalb dieses gegebenen Rahmens. Diese Art Zeugnis bekommen die Kinder und Jugendlichen immer weniger durch die Personen, die sie umgeben. Daher sind Kinder- und Jugendbücher so wichtig: Indem sie diese Rolle einnehmen, genau diesen Rahmen schaffen und trotzdem nicht manipulativ werden, da sie gleichzeitig ihren Adressatinnen und Adressaten – und damit auch mir – viele Welten offenhalten bzw. öffnen.
Autorinnen-Informationen
Dr. Theresa Kohlmeyer ist Leiterin der Abteilung Liturgie und Glaubenskommunikation im Bereich der Pastoralentwicklung des Bistums Essen. Promoviert hat sie an der TU Dortmund zur religiösen Argumentationsfähigkeit der individuellen Auferstehungsvorstellungen bei Jugendlichen und wie dabei fantastische Kinder- und Jugendliteratur die Vorstellung und Sprachfähigkeit fördert. Theresa Kohlmeyer ist außerdem Jury-Mitglied des katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises der Deutschen Bischofskonferenz.