Es wird knapp für Ursula von der Leyen
16. Juli 2019Ursula von der Leyen setzt politisch alles auf eine Karte. "Ich möchte morgen das Vertrauen des Europäischen Parlaments gewinnen", twitterte sie. Die deutsche CDU-Politikerin kündigte an, sie werde als Verteidigungsministerin am Mittwoch auf jeden Fall zurücktreten, egal ob sie an diesem Dienstag zur neuen EU-Kommissionspräsidentin gewählt wird oder nicht. Sie wolle ihre "volle Kraft in den Dienst von Europa stellen". Ihre Anhänger vor allem in der christdemokratischen Fraktion des Europäischen Parlaments sehen das als positives Signal an noch skeptische Abgeordnete. Die derzeitige Chefin von der Leyens, Bundeskanzlerin Angela Merkel, lobte, der Schritt zeige, dass sich die 60-Jährige mit "großer Verve" auf den neuen Lebensabschnitt einlasse.
Von der Leyen braucht die Sozialisten
Am Montag hatten die christdemokratische Fraktion, die liberale Fraktion und die sozialistische Fraktion noch einmal über das Abstimmungsverhalten beraten. Von Christdemokraten und Liberalen kam danach überwiegend Zustimmung für die stets lächelnde Kandidatin, die gegenüber der Presse schwieg. Aber die 182 Stimmen der Christdemokraten und die 108 Stimmen der Liberalen reichen nicht an die erforderliche absolute Mehrheit der Abgeordneten von derzeit 374 heran. Von der Leyen, die erst vor zwei Wochen von den Staats- und Regierungschefs der EU nach einem zähen Krisengipfel überraschend zur Kandidatin gemacht wurde, braucht unbedingt mehr als die Hälfte der 153 Sozialisten auf ihrer Seite. Ob sie die einsammeln konnte, war zuletzt noch immer unklar.
Stimmen von ganz rechts?
Nur die 16 Sozialdemokraten aus Deutschland, die ja in Berlin zusammen mit den Christdemokraten eine Regierungskoalition bilden, sagen dezidiert Nein zu von der Leyens Kandidatur. "Aus prinzipiellen Gründen", grummeln einige SPD-Abgeordnete. Schließlich sei von der Leyen nie Spitzenkandidatin in der Europawahl gewesen und europapolitisch ein mehr oder weniger unbeschriebenes Blatt. Ursula von der Leyen nehme es mit der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn wohl nicht so genau, mutmaßte der SPD-Abgeordnete Udo Bullmann. "Wir wissen nicht, was sie den rechten Kräften in diesem Hause alles versprochen hat", sagte Bullmann. Er spielte darauf an, dass die Kandidatin auch mit einer Reihe von Stimmen aus der nationalkonservativen Ecke - zum Beispiel von der EU-skeptischen PiS-Partei aus Polen - rechnen kann. Sowohl gegen Polen als auch gegen Ungarn laufen EU-Verfahren zur Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit, die aber inzwischen beim Europäischen Rat, also bei den Mitgliedsstaaten festhängen, nicht bei der EU-Kommission.
Auch einige Grüne, Linke oder Rechtspopulisten könnten aus welchen Gründen auch immer für die Ministerin stimmen, die nach Walter Hallstein in den 1960er Jahren erst die zweite höchste Amtsinhaberin in der EU aus Deutschland wäre. Am Ende könnte sie so über die Schwelle von 374 kommen. Erfahren wird man das nie vollständig, denn die Wahl findet am Dienstag um 18 Uhr MESZ geheim statt.
Entscheidende Rede
Zuvor hat die Kandidatin, die letzte Woche schon stundenlang von den Fraktionen befragt wurde, noch einmal die Gelegenheit, in einer Rede am Morgen ihren europapolitischen Kurs, ihr Regierungsprogramm als mögliche EU-Kommissionspräsidentin darzustellen. Von der Leyen selbst hatte eine "Vision für Europa" angekündigt. Sie tritt für mehr Klimaschutz, einen EU-weiten Mindestlohn, eine gemeinsame Verteidigungspolitik und eine Stärkung der Rechte des Parlaments ein. Das hatte sie auch noch einmal in einem acht Seiten umfassenden Schreiben an die liberale und die sozialistische Fraktion dargelegt. Von grünen Abgeordneten kam die Kritik, dass sich von der Leyen nie wirklich festlege und jedem alles verspreche, um Stimmen einzufangen. Die grüne und auch die linke Fraktion wollen geschlossen gegen von der Leyen stimmen.
"Das wird schwer"
Sollte die Kandidatin der Staats- und Regierungschefs am Dienstag trotz ihres intensiven Werbens scheitern, dann müsste innerhalb von vier Wochen eine andere Kandidatin oder ein anderer Kandidat vorgeschlagen werden. Das Parlament würde dann im September erneut abstimmen. Ein solches Szenario, das es bisher noch nie gab, wird von vielen Beobachtern als "tiefe institutionelle Krise" angesehen, ein Machtkampf zwischen Rat und Parlament, die beide Kammern in der EU-Gesetzgebung sind. Der CDU-Abgeordnete David McAllister sagte der Deutschen Welle: "Viele Abgeordnete wissen, was auf dem Spiel steht. Wenn wir von der Leyen nicht wählen, dann wären wir wochenlang wirklich in tiefen Schwierigkeiten." Er sei deshalb ganz zuversichtlich, so McAllister. Ein anderer CDU-Abgeordneter, Daniel Caspary, ein Unterstützer von der Leyens, war nicht ganz so optimistisch. Er sagte vor den entscheidenden Stunden in Straßburg: "Das wird schwer." Man wisse ja, dass viele Europaabgeordnete ihre Entscheidungen spontan und unmittelbar während der Abstimmung "in der letzten Minute" ändern würden. Prognosen bleiben schwierig.