Essen aus dem Müllcontainer
28. November 2013Die Tomaten leuchten prächtig rot in der Sonne, verlockend liegt frischer grüner Spargel daneben und die schwarz-glänzende Aubergine sieht zum Anbeißen aus - das Ganze vor dem Panorama der schneebedeckten Gipfel der Sierra Nevada. So lässt es sich leben, in Andalusien. Doch die Leckereien liegen allesamt im Müll. Bea fällt beinahe in den Abfallcontainer, als sie sich über den hüfthohen Rand beugt, um an das Gemüse zu kommen.
Sie muss sich beeilen, um nicht schon wieder Ärger mit den Wächtern auf dem Großmarkt von Granada zu bekommen, während sie sich an den Abfällen bedient. Frisch sind sie an diesem frühen Morgen allemal. Die Händler haben weggeschmissen, was ihnen aus den Kisten gefallen ist und was sie deshalb nicht mehr verkaufen dürfen. Für Menschen wie Bea ist das eine Chance, an kostenlose Lebensmittel für eine ganze Woche zu kommen.
Etwa alle sieben Tage fährt die 30 Jahre alte Spanierin mit dem Bus auf den Großmarkt und nimmt aus den Containern mit, was sie tragen kann. Meist gibt es Gemüse. Das verdirbt nicht so schnell. Wenn sie Fleisch oder Fisch will, fragt sie an den Verkaufsständen danach. Hat sie Glück, ist noch etwas übrig.
Eigentlich kommt Bea aus Madrid. Lehrerin wollte sie werden. In Italien hat sie Kunstgeschichte studiert, in Rom ihre Diplomarbeit abgeschlossen. Danach ist sie für ein paar Jahre nach Berlin gezogen, hat dort in einem Bio-Kebab-Laden gearbeitet. Offen für ungewöhnliche Lebensumstände war sie schon immer.
Irgendwann zog es sie zurück nach Spanien. In Granada machte sie ein Aufbaustudium auf Lehramt und bestand die staatliche Prüfung. Dann kam die Wirtschaftskrise - und mit ihr die Gewissheit, dass Bea keinen Job finden würde.
Unter Aussteigern, Flüchtlingen und Bettlern
Heute wirkt sie müde, als sie sich an diese Zeit erinnert. Mit leerem Blick umklammert sie den Kaffeebecher, der sie warmhält. Im Herbst kann es in den Ausläufern der Sierra Nevada schon mal kalt werden. Bea besitzt schließlich keine Heizung: Sie lebt in einer Höhle. In Granada ist das durchaus nichts Ungewöhnliches: Viele Menschen leben am Rande der südspanischen Stadt in Höhlen. Ohne Strom und Wasser, als illegale Besetzer von Jahrhunderte-alten Berghöhlen.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Zu den Bewohnern gehören Aussteiger, die ein erfüllenderes Leben wollen, Flüchtlinge aus Afrika, die Zuflucht suchen, oder Bettler, die keine andere Bleibe gefunden haben. Dass Bea, die junge Akademikerin, einmal hier leben würde, statt in einem gemütlichen Drei-Zimmer-Appartement in der Madrider Innenstadt - dafür gibt sie dem Staat die Schuld. Allerdings ist die 30-Jährige ursprünglich nicht aus Armut sondern aus Abenteuerlust in die Höhle gezogen.
Vom Theaterkurs in die Höhle
Der Grund: Bei einem Theaterkurs an der Hochschule hatte sie sich verliebt. Drei Jahre ist das nun her. Sie muss heute fast schelmisch grinsen, wenn sie an ihn denkt. An den jungen Draufgänger, der in Granada studierte und in einer Höhle lebte. Das war interessant. Sie zog bei ihm ein. Doch die Liebe ging in die Brüche. Der Mann verließ Bea und die Höhle. Nun wohnt sie alleine, mitten im Wald. Angst hat sie nicht, nachts im Dunkeln. "Bisher ist noch nichts passiert”, sagt sie.
Sie kocht, während sie erzählt. Auf offener Flamme an der Feuerstelle neben dem Höhleneingang bereitet sie Mangold zu, mit dem Gemüse aus dem Großmarkt-Müllcontainer. Wegen der Finanzkrise hat Spanien im Bildungssektor massiv gespart. "Es gibt einfach keine Stellen für Lehrerinnen an staatlichen Schulen", sagt Bea. Reihenweise wurden Lehrer entlassen, die Berufsfelder Ausbildung und Gesundheit Schritt für Schritt zurückgefahren. "Für mich war in meinem erlernten Beruf kein Platz."
Momente des Glücks trotz großer Sorgen
Nun sitzt sie hier in Granada irgendwie fest, lebt in ihrer Höhle und weiß nicht so recht, wie sie ihr Leben ändern soll. "Man hat viel Zeit nachzudenken.” Sie spielt mit den Fingern an ihren dunklen Haaren, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hat. "In einer Höhle ist es für mich, wie eine innere Erfahrung. Ich bin hier tief drin in der Erde, es ist total ruhig und bei Kerzenschein zu lesen, hat auch etwas Romantisches”, sagt sie.
In diesen Momenten, in denen sie die Vorzüge ihrer Situation beschreibt, scheint die Müdigkeit plötzlich wie verflogen. Dann gehört Bea plötzlich genau hierhin, mit ihrem Joint in der Hand und den Räucherstäbchen auf dem Fensterbrett. Fast so, als hätte sie nie daran gedacht, tatsächlich irgendwann in einem geregelten Job zu arbeiten. Doch im nächsten Moment verfliegt der Ausdruck von Leichtigkeit in ihrem Blick wieder. "Ich denke, dass das was hier passiert, ein natürlicher Prozess ist. Die Ressourcen sind begrenzt, die Leute arbeiten viel für wenig Geld.”
Körperpflege am Kirchenbrunnen
Auch Bea hat Gelegenheitsjobs, mit denen sie sich über Wasser hält. Im Sommer arbeitet sie für einige Wochen auf französischen Feldern, als Erntehelferin und kann sich so das nötigste leisten. Bücher etwa, oder das grüne Solarradio, das sie mit einem Kurbel-Akku aufladen kann, damit sie sich nicht so allein fühlt. Ob sie etwas vermisst, vom Leben in der Stadt, von geregelten Arbeitszeiten und einem gesicherten Einkommen? "Vielleicht eine warme Dusche.” Im Sommer wie im Winter kann sie sich nur an einem Brunnen waschen - an der Kirche, die ein paar Hundert Meter weiter in der Stadt steht.
Ob sie Ziele und Träume hat? Nicht viele. "Ich habe zwar viele Zweifel, kann mir aber auch vorstellen, später als Selbstversorger zu leben, mein Haus zu reparieren und mein Essen selbst anzubauen.” Und auch eine Familie zu gründen. Wann dieses "Später" ist? "Jedenfalls nicht jetzt", sagt Bea. "Jetzt bin ich in einer Findungsphase."
Wenn sie ihre alte Wohngemeinschaft in Madrid besucht, kommt sie nicht mehr zurecht. Alles sei dort viel schnelllebiger, die Menschen in der Stadt immer noch verrückt danach, Häuser zu kaufen. "'Castillos en el aire' nennen wir das in Spanien - Luftschlösser”, sagt Bea. Deshalb sei die Immobilienblase geplatzt. Deshalb hätte die Krise begonnen. Und auch deshalb will sie so schnell nichts an dem Leben ändern, das sie heute führt. Denn eines hat die Krise bei Bea vor allem bewirkt: Sie vertraut dem Staat nicht mehr.