Esther Kinsky: "Sommerfrische"
9. Oktober 2018Im dünn besiedelten Süden Ungarns, wo Esther Kinsky ihren schmalen Roman "Sommerfrische" angesiedelt hat, warten die Sommerhäuser im "Üdülo" (ungarisch: Feriensiedlung) Jahr für Jahr auf ihre kurzfristige Belebung.
Die heruntergekommene postkommunistische Urlaubskolonie zieht all die an, die es bei Ferienwetter zu Hause nicht mehr aushalten. Der Fluss bietet willkommene Abkühlung. Nur äußerst selten verirren sich Touristen von außerhalb dorthin.
Von sommerlicher Unbeschwertheit wird jedoch nur noch beim Bier erzählt. Arbeit haben hier die wenigsten, in der Fabrik gibt es nichts mehr zu verdienen. Was bleibt, ist Saisonarbeit. Nicht jeder kann es sich leisten, Ferien im "Üdülo" zu machen.
Schrilles Sommervergnügen
Erfrischende Abwechslung, die die Einheimischen im Dorf von der sommerlichen Langeweile ablenkt, bietet der knallblaue "Swimmingpull". Kneipenwirt Lacibáci, als Schrotthändler zu Geld gekommen, hat ihn bestellt. Eine Sensation im Ort, alle reden darüber.
Stolz und großkotzig hat er ihn mitten im vollgestellten Hof platziert, zwischen Autowracks und verrosteten Ersatzteilen – zum Vergnügen seiner Frau und der vielen Enkel und Neffen.
"Die Lastwagenfahrer auf der großen Straße hupten, wenn sie an Lacibácis Garten vorbeikamen, und die Schwimmer im hüfthohen Wasser winkten zurück. Die Truthähne kollerten mit geblähten Zuckhälsen, zogen im Hof von einer Ecke zur anderen, pickten zwischen Schrott und buntem Wasserspielzeug, während die Ruthfrau in der Hocke rauchte und versonnen Rostiges betrachtete ..."
Versandete Seelenlandschaften
Esther Kinksy erzählt in ihrem Roman von "Menschen in einer Übergangsgesellschaft": Nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" 1990 und dem politischen Umbruch in Osteuropa erleben auch die Ungarn eine Phase der kompletten Destabilisierung: Nichts ist mehr so wie vorher, kaum etwas hat Bestand. Zukunft zeichnet sich nur schemenhaft am Horizont ab.
Das Ritual, jeden Sommer in die altvertraute, schäbige Ferienkolonie zu fahren, ist ein in die neue Zeit hinübergerettetes Stück Lebensgefühl – auch wenn die Sommerfrische nicht nur erholsam ist.
"Die Tassen und Flaschen, die Teller, Löffel. Alles auf seinem Platz. Sommer. An Werktagen blieb es noch still im üdülo, aber in der Kneipe roch es schon nach der Hinterlassenschaft des Wochenendes: verschüttetes Bier, Schweiß, die billigen Sommerparfums der Mädchen, die Auspuffwolken der Motorradfahrer und hilflose Chlorbleiche mit Urin."
Gestrandete Existenzen, Hoffnungslose, Arbeitslose, die der ungewohnte Turbo-Kapitalismus aus der Bahn geworfen hat, treffen in ihren Erzählungen auf flirtfreudige "Kozakjungs aus der Stadt" und Mädchen in Minirock und Glitzerschlappen, die entweder Zsusa oder Marika heißen. Sie alle träumen von Liebe und von neu gewonnener Freiheit.
Poetisch verdichtet schildert Kinsky in starken Bildern, was Brüche in einem Lebenslauf in der Seelenlandschaft von Menschen anrichten können. Auch die Natur trägt bei ihr Spuren dieser Verlorenheit. "Der Himmel war weiß mit weichen grauen Kissen. Wolken, die nicht wußten wohin mit sich, denn das struppig-fahle hitzeschrundige Land unter ihnen wollte sie nicht."
Schriftstellerin erst im zweiten Schritt
Bevor sich Esther Kinsky (Jg. 1956) an ihr erstes eigenes Buch wagte, arbeitete sie als Übersetzerin – aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Ihr Spezialgebiet war Lyrik (u. a. von Hanna Krall).
Wortgenau, fast karg, mit enormer sprachlicher Kraft fängt sie in ihrem Roman die schwermütige Öde dieses Grenzlandes zwischen Ungarn, Rumänien und Serbien ein. Schonungslos beschreibt sie das prekäre Sozialgefüge, in dem Perspektivlosigkeit den Alltag bestimmt.
Hier im dünn besiedelten Banat hat Kinsky, die in Deutschland im Rheinland aufgewachsen ist, viele Jahre gelebt und gearbeitet. 2004 war sie nach Jahren in der umtriebigen Hektik Londons nach Ost-Europa gezogen: erst nach Budapest und dann in den Süden Ungarns – ohne der Sprache mächtig zu sein. Auf einer Reise hatte sie spontan ein leerstehendes Haus gekauft. Und war geblieben. Die Einfachheit des Lebens gab ihr die Ruhe zum Schreiben.
Archäologin des Alltäglichen
Heute lebt und arbeitet Esther Kinsky als Schriftstellerin in Berlin. Erfolgreich: Nur für ein paar Wochen im Jahr kommt sie zurück in die ungarische Grenzregion. Die Spanne zwischen Idylle und prekärem Albtraum hatte auch sie als "Fremde" nicht überbrücken können: Sie musste wegziehen, den Traum vom einfachen Leben auf dem Land begraben.
Geblieben sind ihr die starken Sommer-Bilder eines vom kapitalistischen Wohlstand abgehängten Landstrichs.
"An den Straßenecken bauten die Melonenverkäufer ihre Stände auf. Die grünen Wassermelonen glänzten, geduldige Tiere, Herden, die es hierher verschlagen hatte. Daneben die gelben Melonen, grau-rauschalig und duftend, ungelb, der einzige Duft, der sich gegen das metallische Mittagsglühen behaupten konnte."
Esther Kinsky: "Sommerfrische" (2009), Verlag Matthes & Seitz/Berlin
Zwischen 1987 und 2018 publizierte Esther Kinsky Kinderbücher, Romane und Gedichte. 2016 übernahm sie die Thomas-Kling-Poetikdozentur an der Universität Bonn. Für "Hain. Ein Geländeroman" erhielt sie 2018 der Preis der Leipziger Buchmesse.