Gleichheit in Brasilien
7. November 2012Das Gefühl, dass die soziale Ungleichheit in Brasilien abnimmt, lässt sich nun in Zahlen ablesen: Eine Studie des regierungsnahen "Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung" (IPEA) verzeichnet in den letzten zehn Jahren einen rapiden Rückgang der ökonomischen Unterschiede auf den nun niedrigsten Stand seit Beginn der Erhebungen Mitte des letzten Jahrhunderts. Demnach stiegen die Einkommen der Ärmsten zwischen 2001 und 2011 deutlich schneller als die der Reichsten des Landes: Die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung haben ihr Einkommen in dieser Zeit fast verdoppelt, die Reichsten steigerten ihre Bezüge im selben Zeitraum nur um ein Sechstel.
Mehrere Faktoren
Für mehr als die Hälfte dieser Entwicklung sind der IPEA-Studie zufolge Lohnerhöhungen und der Anstieg der formellen Beschäftigungen verantwortlich. Die Zahl der regulären Arbeitsverträge hat sich seit 2004 verdoppelt.
Ein weiterer wichtiger Faktor sei die staatliche Umverteilung durch Sozialprogramme und Rentenkassen; sie machte rund ein Drittel der Veränderung bei der Einkommensverteilung aus. "Die Umverteilung ist notwendig", meint der Ökonom und IPEA-Präsident Marcelo Neri. "Brasilien kann nicht wachsen, wenn es 70 Prozent der Bevölkerung zurücklässt."
Nachhaltigkeit fragwürdig
Sérgio Costa, Professor für Soziologie der Freien Universität Berlin, sieht das kritischer: "Einkommen an Mittellose zu transferieren, hat durchaus politische, soziale und auch ökonomische Auswirkungen, doch einen langfristigen Aufstieg der unteren Klassen ermöglicht das nicht."
Die brasilianische Regierung lasse einige strukturelle Elemente des Problems außer Acht, meint Costa, der das Projekt "DesiguALdades.net", ein Netzwerk zur Erforschung von Ungleichheit in Lateinamerika, leitet: "In anderen Bereichen, wo staatlicher Eingriff fundamental ist, fehlen öffentliche Investitionen."
Dazu gehörten insbesondere der Bildungs- und der Transportsektor, so Costa. Wer in Brasilien eine öffentliche Schule besuche, sei dazu "verdammt", in seiner sozialen Schicht zu bleiben. "In Deutschland schafft das öffentliche Angebot eine gewisse Gleichheit in der Bevölkerung", erklärt er. "In den 60er-Jahren zum Beispiel sind auf diese Weise viele Kinder aus Arbeiterfamilien Ärzte oder Ingenieure geworden. In Brasilien kommt das äußerst selten vor."
Mehr als nur Einkommen
Die Ökonomin Lena Lavinas von der Bundesuniversität in Rio de Janeiro (UFRJ) ist der Meinung, moderne Gesellschaften förderten die Gleichheit mittels einer sozialen Infrastruktur. Doch während die Regierung in Brasilien viel Geld in Form von Einkommen umverteile, seien die öffentlichen Ausgaben für Bildung, Transport und Gesundheit nicht in angemessenem Maße gestiegen. "Die Regierung vergisst, dass die Menschen nicht nur Geld, sondern auch Chancen brauchen."
Auch Dawid Bartelt von der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro vermutet, dass die Regierung fundamentale Aspekte vernachlässigt: "Die Bildung in Primar- und Sekundarstufe ist katastrophal und hat sich auch seit der Regierungsübernahme der Arbeiterpartei PT vor zehn Jahren kaum oder gar nicht verbessert. Auch im Gesundheitssektor gibt es gravierende Probleme."
Großer Aufwand, kleine Wirkung
Verglichen mit den staatlichen Ausgaben, meint Bartelt, ließe das nun dokumentierte Ergebnis sehr zu wünschen übrig: "In absoluten Zahlen haben die Reichen ihre Einkommen viel mehr gesteigert als die Armen. Dabei gäbe es ein großes Potenzial, noch mehr Mittel einzunehmen, um essenzielle Sozialleistungen substanziell zu verbessern und die Armut nachhaltig zu reduzieren." Sérgio Costa sieht das ähnlich: "Die Verbesserungen bleiben deutlich hinter unseren Erwartungen zurück."