EU-Erweiterung: Die Neuen bringen Schwung, die Alten mauern
4. Mai 2005In der Europa-Hauptstadt Brüssel ist mit der Erweiterung um zehn Staaten im Mai 2004 alles ein bisschen größer, bunter und unübersichtlicher geworden. Trotz der schwer beherrschbaren Sprachenvielfalt, der wachsenden Konferenztische und der länger werdenden Rednerlisten funktioniert die EU der 25 - zumindest im bürokratischen Alltag. Spürbar ist, dass viele neue Staaten ihren EU-Kommissar eher als Botschafter für eigene nationale Interessen missverstehen. Die Kollegialität und Entscheidungsfähigkeit des multinationalen Führungsgremiums hat gelitten.
Auf der anderen Seite sorgen die Neuen auch für mehr Schwung. Ihnen geht vieles zu langsam in der behäbigen Eurokratie. Besonders bitter finden sie, dass die Rekrutierung von EU-Personal aus den Beitrittsländern im Osten eher schleppend verläuft. Als große Bremser gelten Deutschland und Frankreich, die gemeinsam zum Beispiel die Dienstleistungsrichtlinie verwässern, von der sich die Neumitglieder mehr Chancen für ihre Arbeitnehmer versprachen.
Streit um Finanzmittel
Zur wirklichen Nagelprobe werden die Verhandlungen über die Finanzmittel für die Jahre 2007 bis 2013. Die Nettozahler im Westen Europas wollen den Haushalt deckeln. Die großen Netto-Empfänger im Süden wollen nicht auf gewohnte Leistungen verzichten. Die armen Empfängerstaaten im Osten verlangen mehr Struktur- und Aufbauhilfen und werden dabei von der EU-Kommission gestützt, die den Haushalt auch wegen der Erweiterungen, die noch anstehen, um ein Drittel aufstocken will. Einen Ausweg aus dieser Sackgasse soll bis Ende Juni gefunden werden.
Die Bilanz in den beigetretenden Ländern fällt gemischt aus: Die Wirtschaft wächst stärker als in den alten Staaten, aber es wird noch Jahre oder Jahrzehnte dauern bis das Wohlstandsgefälle ausgeglichen sein wird. Der ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany hat es so formuliert: "Alle Erwartungen wurden erfüllt - weil sie so bescheiden waren."
Debatte um Lohn-Dumping
Dass in Deutschland und Frankreich Europa und die Erweiterung nun zum Sündenbock gemacht werden, gibt Anlass zu großer Sorge. Natürlich gibt es stellenweise Lohn-Dumping mit preiswerteren Arbeitskräften aus den neuen EU-Ländern, aber von einer flächendeckenden Schwemme von Billig-Löhnern kann nicht die Rede sein. Für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nicht die Osterweiterung der EU, sondern sind strukturelle Probleme verantwortlich. Die deutsche Wirtschaft selbst bilanziert, sie habe durch gestiegene Exporte in die neuen EU-Ländern profitiert. Die Verlagerung von Produktionsstätten nach Osten wird überbewertet. Außerdem steigen in Polen, Litauen und anderswo die Löhne und die Preise nicht erst seit der Erweiterung stetig an. In einigen Jahren werden diese Länder keine "Billiglohn-Länder" mehr sein.
Zustimmung zur EU-Verfassung steht auf der Kippe
In Frankreich steht die Zustimmung zur EU-Verfassung auf der Kippe. Sollten die Franzosen das Regelwerk ablehnen, das die Funktionsfähigkeit der wachsenden Union auch in Zukunft sicherstellen soll, wäre das ein herber Rückschlag. Auch in den Niederlanden, Polen oder Großbritannien ist die Zustimmung keineswegs sicher. Insgesamt macht sich eine schwer zu erklärenden Europa-Frustration und Erweiterungs-Müdigkeit breit. Rumänien und Bulgarien werden eher lustlos aufgenommen. Weitere Beitritte, etwa von Kroatien oder der Türkei, werden mit immer höheren Hürden versehen. Sollte das Verfassungsprojekt tatsächlich scheitern und sich ein Kern-Europa herausbilden, dann muss die Einladung an die Türkei, Mitglied in der EU zu werden, noch einmal gründlich überdacht werden.
Grenzen der EU-Erweiterung
Es könnte sich herausstellen, dass die Union sich überdehnt hat und mit den weltanschaulichen und wirtschaftlichen Folgen nicht mehr fertig wird. Ein Jahr nach der "Big-Bang"-Erweiterung um 74 Millionen EU-Bürger heißt die Aufgabe, den Menschen erklären, warum auch die Mitglieder 26 bis 31 noch mit an Bord sollen. Eine ehrliche Debatte über die Grenzen Europas und die Geschwindigkeit der Erweiterung ist angezeigt.
Die Gemeinschaft der europäischen Demokratien nicht zu erweitern und auf dem Stand der neunziger Jahre von 12 oder 15 Mitgliedern einzufrieren, wäre übrigens ein nicht vorstellbarer Weg gewesen. Nach dem Ende der Sowjetunion, dem Wegfall der Blöcke, war es geradezu eine Pflicht, die friedliche Einheit Europas anzustreben und zu vollenden. Die Erweiterung vor einem Jahr war richtig und notwendig. Heute ist die Lage Europas besser, als es die Stimmung in Deutschland vermuten lässt.
Bernd Riegert/Brüssel
DW-RADIO, 1.5.2005, Fokus Ost-Südost