EU-Flüchtlingsabkommen überlastet Inseln
30. Januar 2017Als Mohammed aus dem Irak mit seiner Familie im Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Samos ankam, erwartete ihn eine negative Überraschung - sie hatten keinen Platz zum Schlafen. "Wir haben dann von einem irakischen Flüchtling zwei kleine Zelte bekommen", erzählt er der Deutschen Welle. Wenige Tage später zieht er in einen Container. "Eine der Familien, die in diesem Container lebte, verließ das Lager. Ich entschied mich, ihn zu kaufen." Wenn Menschen aus dem Lager weggingen, sei es üblich, dass diese ihren Container an andere verkaufen. Jeder kennt diesen ungewöhnlichen und ungerechten Handel, aber niemand scheint ihn zu verhindern. Mittlerweile konnte Mohammed mit seiner Familie jedoch in eine vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geförderte private Einrichtung ziehen.
Seitdem das EU-Türkei-Abkommen im Frühjahr 2016 in Kraft getreten ist, müssen die Flüchtlinge so lange auf den griechischen Inseln bleiben, bis ihre Asylanträge bearbeitet sind - mit fatalen Folgen. Das Flüchtlingslager auf der 30.000-Einwohner-Insel Samos ist überfüllt. Ursprünglich wurde es für 850 Menschen gebaut - doch derzeit halten sich mehr als 1800 Flüchtlinge dort auf und harren bei Kälte und Eis aus. Mehr als 600 Menschen leben in 56 unbeheizten Containern; andere schlafen in Zelten. Laut Ralf Kist, dem Frontex-Teamchef der deutschen Mission, wandelten sich die Bedingungen im Lager schon zum Besseren. Doch noch immer klagen Bewohner über Schmutz, Müll und Kälte.
Auch Maher und Ahmad konnten in eine der privaten Einrichtungen der griechischen Nichtregierungsorganisation Praksis ziehen. Die beiden Männer lernten sich im Flüchtlingslager kennen und sind seitdem unzertrennlich. Maher leidet unter Epilepsie und hatte auf Samos bereits einen schweren Anfall. Ahmad, ein 27-jähriger palästinensischer Student, der zuvor im Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus lebte, kümmert sich um ihn.
Maher ist wegen des Kriegs aus der syrischen Stadt Homs geflohen. Drei seiner Söhne leben mittlerweile in den Niederlanden. Der Rest seiner Familie, darunter seine Frau und ein zehn Jahre alter Sohn, sind noch in Syrien. Er hofft, dass seine Familie bald wieder zusammen sein kann - doch das wird schwierig. Als er sich auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer begab, wusste er nichts von dem EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen. "Meine Familie ist 1948 aus Palästina geflohen, ich bin in Syrien geboren, aber ich musste aus dem Land fliehen", erzählt er der DW. "Ich fürchte, ich werde meine Familie nie wiedersehen."
"Andere Nationalität annehmen"
Samos liegt in der nördlichen Ägäis und ist nur 1,7 Kilometer von der Türkei entfernt. Derzeit beherbergt die Insel rund 2600 Flüchtlinge und Asylsuchende. In der Hauptstadt Vathy ist eines der zentralen Hotels überfüllt: Flüchtlinge, Helfer, Beamte, Freiwillige und Journalisten halten sich hier auf. Am Hafen versammeln sich viele Flüchtlinge und angeln - das lockert ihren drögen Alltag etwas auf.
Sobald ein Boot gerettet wird, werden die Flüchtlinge in das "Hotspot"-Camp von Samos gebracht. Hier beginnt das komplizierte bürokratische Verfahren. Nachdem die Flüchtlinge medizinisch untersucht und behandelt wurden, startet die europäische Grenzschutzbehörde Frontex ihr Screening-Verfahren, um die Identität der Menschen festzustellen. "Es gibt Asylsuchende, die versuchen, eine andere Staatsangehörigkeit vorzugeben - aus Angst zurückgeschickt zu werden", sagt Frontex-Teamchef Ralf Kist. Darüber hinaus müssen wir die Vermittler, also Menschenschmuggler, identifizieren." Frontex-Offiziere prüfen die Asylanträge der Neuankömmlinge; danach bearbeiten die griechischen Behörden die Papiere. Der ganze Prozess kann Monate dauern. Einige Leute sollen bereits seit April 2016 auf eine Entscheidung warten, so ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation.
Krankenhauspersonal überfordert
Obwohl das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei die Menschen daran hindert, die griechischen Inseln zu verlassen, können Flüchtlinge bei einem medizinischen Notfall in ein Krankenhaus nach Athen gebracht werden. "Jeder behauptet deshalb, dass er unter einer schweren Erkrankung leidet", klagt Krankenhausleiter Nikos Kaklamanis gegenüber der DW. "Das bedeutet, dass eine große Anzahl von Patienten untersucht werden muss - und das kann zu Chaos führen. Immer wieder kann es passieren, dass ein Patient deshalb nicht die angemessene Aufmerksamkeit erhält." Laut "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) leiden viele der Flüchtlinge zudem an Depressionen. In der vergangenen Woche gab es einen bestätigten Selbstmordversuch unter den Flüchtlingen.
Trotz aller Widrigkeiten: Die von der DW interviewten Flüchtlinge geben Griechenland keine Schuld für diese Zerreißprobe. Ahmad glaubt, dass Griechenland vor schwierigen Zeiten steht - und möchte dem Land etwas zurückgeben: "Wenn wir wenigstens arbeiten könnten!" Er hatte Betriebswirtschaft studiert, bevor er Syrien verließ. Das Schwierigste für ihn derzeit: Dass er nicht arbeiten und seine Ausbildung fortsetzen darf.
Auch Mohammeds Situation ist keine einfache. Er stammt nicht aus Syrien, seine Asylchancen seien deshalb geringer als Ahmads: "Vor ein paar Monaten waren wir noch Flüchtlinge, jetzt sind wir keine mehr. Jedes Land schaut auf seine eigenen Interessen. Aber wenn du Wurzeln irgendwo hast, warum solltest du deine Heimat jemals verlassen? Es ist der Krieg, der dich zu einem Flüchtling macht."